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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Kapelle. Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder; es war ein Versuch, seinen Zorn im Zaum zu halten. Du darfst nichts überstürzen, sagte er sich. Sei vorsichtig. Lass dir Zeit.
    Im Portal der kleinen Kapelle hielt er einen Augenblick inne, um sich zu beruhigen. Dann schob er leise die schwere Eichentür auf und trat ein.
    Vor ihm standen in unregelmäßigen Reihen ungefähr ein Dutzend Mönche und einige Novizen. Er sah sie nur von hinten. Vorne, am Altar, stand der Sakristan und las laut aus einem aufgeschlagenen Buch. Er leierte seinen Text schnell herunter, und die Antworten der Mönche kamen ebenso leiernd und gelangweilt. Auf einem schmutzigen Altartuch flackerten drei ungleich lange Kerzen.
    Im Hintergrund standen zwei junge Mönche und unterhielten sich angeregt. Das Abendgebet interessierte sie kaum. Als Philip sie erreichte, machte einer von ihnen gerade einen Witz, worauf der andere laut auflachte und das Geplapper des Sakristans übertönte. Diese Szene brachte für Philip das Fass zum Überlaufen, und alle seine guten Vorsätze waren wie weggewischt. »RUHE!«, brüllte er, so laut er konnte.
    Das Gelächter brach ab. Der Sakristan verstummte. Grabesstille herrschte auf einmal in der Kapelle, und alle Mönche wandten sich zu Philip um.
    Philip packte den Mann, der so dreist gelacht hatte, am Ohr. Der Mönch war ungefähr im gleichen Alter wie er selbst, aber merklich größer. Philip zog seinen Kopf herunter. »Auf die Knie!«, schrie er. Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle sich der junge Mann losreißen. Doch er wusste, dass er im Unrecht war, und das schlechte Gewissen lähmte, wie Philip erwartet hatte, seinen Widerstandsgeist. Philip verstärkte seinen Griff, und der Mönch fiel auf die Knie.
    »Das gilt für euch alle«, befahl Philip. »Auf die Knie!«
    Sie hatten allesamt Gehorsam gelobt, und die skandalöse Disziplinlosigkeit, die sich in jüngster Zeit im Kloster breitmachte, hatte die jahrelange Gewohnheit noch nicht zu erschüttern vermocht. Gut die Hälfte der Mönche und alle Novizen fielen auf die Knie.
    »Ihr alle habt euer Gelübde gebrochen«, sagte Philip und ließ sie seine Verachtung spüren. »Ihr seid Gotteslästerer, alle miteinander.« Er sah sie alle der Reihe nach an. »Eure Buße beginnt sofort.«
    Nun beugten auch diejenigen, die zuvor gezögert hatten, die Knie, bis schließlich nur noch der Sakristan stand. Er war ein feister Mann mit schläfrigen Augen und mochte etwa zwanzig Jahre älter sein als Philip, der nun auf ihn zuging.
    »Gib mir das Buch!«, befahl Philip.
    Der Sakristan starrte ihn trotzig an und würdigte ihn keiner Antwort.
    Philip war mit einem Schritt bei ihm und griff nach dem großen Band, doch der Sakristan ließ ihn nicht los. Philip zögerte. Zwei Tage lang hatte er sich selbst Vorsicht und Bedächtigkeit geschworen – und nun stand er hier, die Schuhe noch voller Straßenstaub, und setzte in einem Machtkampf mit einem ihm gänzlich unbekannten Mann alles aufs Spiel. »Das Buch her, und dann runter auf die Knie!«, wiederholte er.
    Ein höhnischer Zug lag in der Miene des Sakristans. »Wer seid Ihr?«, fragte er.
    Philip zögerte erneut. Dass er Mönch war, verrieten seine Kutte und sein Haarschnitt, und dass er eine höhere Stellung bekleidete, musste sein Auftreten ihnen klargemacht haben. Unklar war nach wie vor, ob er einen höheren Rang innehatte als der Sakristan. Philip hätte jetzt nur zu sagen brauchen: Ich bin euer neuer Prior, aber das wollte er nicht. Es erschien ihm plötzlich sehr wichtig, sich allein mittels moralischer Autorität durchzusetzen.
    Der Sakristan spürte seine Unsicherheit und machte sie sich sofort zunutze. »Hättet Ihr vielleicht die Güte«, fragte er mit gespielter Höflichkeit, »uns mitzuteilen, wer da gekommen ist und wünscht, dass wir in seiner Gegenwart niederknien?«
    Das reichte, um Philips letzte Bedenken zu vertreiben. Gott steht auf meiner Seite, dachte er, wovor also fürchte ich mich? Er holte tief Luft und sprach mit donnernder Stimme, die hoch oben im steinernen Gewölbe widerhallte: »Gott ist es, der euch befiehlt, in seiner Gegenwart niederzuknien!«
    Der Sakristan schien eine Spur seiner Selbstsicherheit verloren zu haben. Philip nutzte die Gelegenheit und entriss ihm das Buch. Nun war dem Mann der Rest seiner Autorität genommen. Jetzt kniete auch er nieder.
    Philip ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken. Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen

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