Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
suchte ihn schließlich nur noch in seltenen Augenblicken geistiger und körperlicher Untätigkeit heim, wie eine alte wetterfühlige Verwundung.
Francis hatte etwas später mit denselben Anfechtungen zu kämpfen. Obwohl sein Bruder sich ihm nie anvertraute, gewann Philip den Eindruck, dass Francis den bösen Gelüsten weniger Widerstand entgegenbrachte als er selbst und ihnen gelegentlich gar nicht so ungern auch erlag … Doch darauf kam es inzwischen nicht mehr an. Wichtig war, dass sie beide ihren Frieden mit jenen Leidenschaften gemacht hatten, die mehr als alles andere das klösterliche Leben gefährdeten.
So wie Philip dem Cellerar, war Francis dem Prior zugeordnet, dem Stellvertreter des Abtes. Nach dem Tode des Kellermeisters übernahm Philip sein Amt, obwohl er erst einundzwanzig Jahre alt war. Als Francis einundzwanzig wurde, wollte der Abt eigens für ihn das neue Amt eines Subpriors einrichten. Der Vorschlag führte jedoch zu einer unerwarteten Krise. Francis bat darum, aus der Verantwortung entlassen zu werden. Er wollte sich zum Priester weihen lassen und dem Herrn fortan außerhalb der Klostermauern dienen.
Philip war ebenso verblüfft wie entsetzt über das Vorhaben seines Bruders. Nicht im Traum hätte er gedacht, einer von ihnen käme je auf die Idee, das Kloster zu verlassen, und nun war ihm, als habe er soeben erfahren, er sei zum Thronerben bestimmt worden. Nach einigem Hin und Her war es dann so weit: Francis zog hinaus in die weite Welt. Es dauerte nicht lange, und er fand eine Anstellung als Hofkaplan beim Grafen von Gloucester.
Philips Vorstellungen von seiner eigenen Zukunft waren bis zu diesem Moment – soweit er sich überhaupt darüber Gedanken gemacht hatte – immer recht einfach gewesen: Er wollte Mönch sein und bleiben und ein demütiges, gottesfürchtiges Leben führen; vielleicht konnte er später sogar einmal Abt werden und dem Vorbild Peters nacheifern. Nun jedoch fragte er sich unwillkürlich, ob Gott ihm nicht eine andere Bestimmung zugedacht hatte. Das Gleichnis von den Talenten fiel ihm ein: Gott erwartete von seinen Dienern nicht nur die Erhaltung, sondern auch die Mehrung seines Reichs. Nicht ohne Furcht vertraute er Abt Peter seine Gedanken an, musste er doch damit rechnen, ob seines Stolzes zurechtgewiesen zu werden.
Die Antwort überraschte ihn. »Ich habe mich schon gefragt«, sagte der Abt, »wann du endlich darauf kommen wirst. Selbstverständlich bist du zu Höherem berufen! Unweit eines Klosters geboren, im Alter von sechs Jahren verwaist, von Mönchen aufgezogen, mit einundzwanzig zum Cellerar ernannt … Nein, wer einen solchen Werdegang nimmt, den hat Gott nicht dazu ausersehen, sein ganzes Leben in einem kleinen Kloster auf einem öden Berggipfel zu verbringen! Der Acker hier ist viel zu klein für dich. Auch du musst uns verlassen.«
Philip war wie vor den Kopf geschlagen. Doch die Frage, die ihm eingefallen war, musste er unbedingt noch stellen. »Wenn dieses Kloster hier so unbedeutend ist … Warum hat Gott dann Euch hierher bestellt?«
Abt Peter lächelte. »Vielleicht, damit ich mich um dich kümmere.«
Später in jenem Jahr reiste der Abt nach Canterbury, um dem Erzbischof seine Aufwartung zu machen. Nach seiner Rückkehr sagte er zu Philip: »Ich habe dich dem Prior von Kingsbridge überlassen.«
Philip erschrak. Kingsbridge war eines der größten und bedeutendsten Klöster des Landes. Es war eine Kathedralenpriorei; seine Kirche war eine Kathedrale, ein Bischofssitz. Abt des Klosters war nominell der Bischof, doch wurde es de facto von seinem Stellvertreter, dem Prior geleitet.
»Prior James ist ein alter Freund von mir«, fuhr Abt Peter fort. »In den letzten Jahren hat er, ich weiß nicht warum, viel von seinem früheren Mut und seiner Tatkraft eingebüßt. Kingsbridge, so viel steht fest, braucht frisches Blut. Besonderen Kummer macht James seit einiger Zeit eine kleine Außenstelle seines Klosters draußen im Wald. Er braucht dort einen absolut zuverlässigen Mann, der die Zelle wieder auf den Pfad der Tugend und Gottgefälligkeit zurückführen kann.«
»Und ich soll der Prior dieser Zelle werden?«, fragte Philip erstaunt.
Der Abt nickte. »So ist es. Und wenn es stimmt, dass Gott mit dir noch eine Menge vorhat, so darfst du gewiss sein, dass er dir bei der Lösung der dortigen Schwierigkeiten seine Hilfe nicht versagen wird.«
»Und wenn es nicht so ist?«
»Dann kannst du jederzeit hierher zurückkehren und mein Cellerar
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