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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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nachgewiesener Armut darauf verzichtet werden. Da Philips Vater seinen Kindern ein bescheidenes Gehöft in den Bergen hinterlassen hatte, waren Francis und Philip nicht einmal mittellos. Abt Peter machte den Vorschlag, das Gehöft und die beiden Jungen dem Kloster zu überlassen, und die überlebenden Verwandten erklärten sich damit einverstanden. Man setzte einen Vertrag auf, der durch die Unterschrift des Fürsten von Gwynedd, Gruffyd ap Cynan, bestätigt wurde, der durch König Henrys Invasionstruppen zwar eine zeitweilige Demütigung hatte hinnehmen müssen, seinen Thron aber nicht verloren hatte.
    Trauer und Sorge waren für Abt Peter nichts Unbekanntes, doch auch er war auf das, was Philip in der Folgezeit durchmachen musste, nicht vorbereitet. Ungefähr ein Jahr nach den schrecklichen Ereignissen, als die Kinder sich an das Klosterleben gewöhnt hatten und die Trauer um die Eltern nicht mehr gar so schwer auf ihnen zu lasten schien, wurde Philip urplötzlich von einer Art unversöhnlichen Zorns erfasst. Die Lebensbedingungen in der Gemeinschaft auf dem Klosterberg rechtfertigten seine Wut nicht: Es gab genug zu essen und anzuziehen, während der Wintermonate brannte im Dormitorium ein warmes Feuer, und den Kindern wurde sogar ein wenig Liebe und Zuneigung entgegengebracht. Die strenge Disziplin und die ermüdenden Rituale sorgten zumindest für eine gewisse Ordnung und Regelmäßigkeit. Philip indessen benahm sich, als sei er schuldlos ins Gefängnis geworfen worden. Er weigerte sich, Befehle auszuführen, und untergrub bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Autorität der Klosteroffizialen. Er stahl Lebensmittel, zerbrach mutwillig Eier, ließ Pferde von der Leine, verhöhnte die Kranken und bedachte alle, die älter waren als er, mit Beleidigungen. Das einzige Vergehen, dessen er sich nicht schuldig machte, war Gotteslästerung, daher verzieh ihm der Abt alles andere, und eines Tages war Philip diesem Zustand von ganz allein entwachsen. Als er sich am Weihnachtsfest die vergangenen zwölf Monate ins Gedächtnis zurückrief, wurde ihm plötzlich klar, dass er nicht eine einzige Nacht im Karzer verbracht hatte.
    Seine Rückbesinnung auf einen gesitteten Lebenswandel ließ sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis zurückführen, doch trug unter anderem wahrscheinlich der Umstand dazu bei, dass der Unterricht ihn mehr und mehr zu fesseln begann. Die mathematische Seite der Musiktheorie faszinierte ihn, und selbst in der Konjugation lateinischer Verben erkannte er eine gewisse Logik, an der er Gefallen fand. Er war beauftragt worden, dem Cellerar zur Hand zu gehen, also jenem Mönch, der für die Versorgung des Klosters von Sandalen bis zum Saatgut zuständig war, und auch diese Aufgabe erregte seine Neugier. Er entwickelte eine an Heldenverehrung grenzende Bewunderung für Bruder John, einen gut aussehenden, kräftigen jungen Mönch, der ihm geradezu als Inbegriff der Gelehrsamkeit, Frömmigkeit, Klugheit und Freundlichkeit erschien. Sei es aus Nachahmung, sei es aus persönlicher Neigung (oder aber aus dem einen und dem anderen Grunde) – er begann, in den sich Tag für Tag wiederholenden Andachten und Gebeten einen gewissen Trost zu finden.
    Als die Jahre der Reife kamen, beherrschten die klösterlichen Rituale sein Denken, und die heiligen Harmonien erfüllten sein Ohr.
    Sowohl Philip als auch Francis waren allen anderen Knaben ihres Alters weit voraus, jedenfalls soweit sie es selbst beurteilen konnten. Dass sie Ausnahmetalente waren, ahnten sie damals noch nicht; vielmehr schrieben sie ihre Fähigkeiten dem Leben und der Ausbildung im Kloster zu. Auch als sie selbst immer mehr Lehraufgaben in der kleinen Schule übernahmen und nicht mehr von dem pedantischen alten Novizenmeister, sondern vom Abt persönlich unterrichtet wurden, meinten sie, ihr Vorsprung vor ihren Altersgenossen sei lediglich darauf zurückzuführen, dass sie schon so früh mit dem Lernen begonnen hätten.
    Wenn Philip an seine Jugend dachte, dann erschien ihm die Spanne zwischen dem Ende seiner Rebellion und der ersten Attacke der fleischlichen Lust als eine Art Goldenes Zeitalter – obgleich sie insgesamt höchstens ein Jahr umfasst hatte. Danach begann die qualvolle Zeit der unkeuschen Gedanken und nächtlichen Entladungen, die Zeit entsetzlich peinlicher Beichten (sein Beichtvater war der Abt persönlich), endloser Bußen und Geißelungen. Die Lust blieb ihm ein ständiger Begleiter, verlor jedoch mit den Jahren an Bedeutung und

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