Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
aufgerichtet und dominant.
Dann senkte Tengel die Arme und atmete aus. Sol folgte seinem Beispiel, und gemeinsam kamen sie zurück. Sol ging zu ihrem Bruder, Tengel zu seiner Frau auf dem Pferd. So zogen sie weiter.
»Was war das, was du getan hast?« fragte Silje nach einer Weile leise. »Hast du uns für sie unsichtbar gemacht?«
Tengel schmunzelte leicht, aber seine Augen waren ernst.
»Nein, nicht ganz so drastisch. Ich… habe ihre Gedanken von uns fort gezwungen, damit sie nicht hierher sehen.«
Es war schwer, sich das vorzustellen.
»Eine Art Gedankenübertragung also?«
»So könnte man es vielleicht nennen. Oder Massenbeeinflussung, Hypnose, wenn du willst.«
»Glaubst du, es wirkt?«
»Ich weiß nicht«, lachte er ein wenig verlegen. »Ich kenne meine Kräfte nicht - ich tat nur mein Äußerstes.«
»Wußte Sol, was sie tat?«
Tengel schauderte. »Da bin ich mir sicher. Es lief ein gewaltiger Strom zwischen uns. Von Verstehen und Zusammenarbeit. Das Mädchen, Silje… Ich habe Angst.«
Silje sagte langsam und widerstrebend: »Sie hat ein großes Bündel in ihrem Mantel versteckt, als wir gepackt haben.«
»Ich weiß. Sie hat es von Hanna bekommen.«
»Willst du ihr erlauben, es zu behalten?«
»Willst du?« fragte er sofort zurück.
»Ich überlasse dir die Entscheidung. Glaubst du dasselbe wie ich? Glaubst, es ist Hannas… wie soll ich es nennen?
Ihr Erbe, das sie Sol hinterlassen hat?«
»Davon bin ich überzeugt. Mir war schon lange klar, daß Hanna Sol zu ihrer Erbin ausersehen hat. Sie hat einmal vor langer Zeit versucht, mich zu ihrem Nachfolger zu machen, aber ich habe mich geweigert. Seitdem hat sie mich gehaßt. Sol muß für sie wie gerufen gekommen sein, denn es sind sicher sehr wertvolle Dinge in dem Bündel.
Salben und Rezepte, die ansonsten in Vergessenheit geraten sind und die in der Sippe erhalten werden müssen. Wahrscheinlich hat sich Hanna nur deshalb so lange am Leben erhalten, um auf jemanden zu warten, dem sie das alles vererben konnte. Ich will jedenfalls Sol das Bündel nicht gerade jetzt wegnehmen.«
»Nein, du hast recht. Kinder! Beeilt euch!«
Das Tempo nahm zu. Der Abend wurde dunkler, aber nicht ganz finster, und darüber waren sie froh. Denn nun waren sie gleich oben auf dem Bergpaß.
»Glaubst du, das Pferd schafft es hinüber?« sagte Silje skeptisch, als sie die bedrohlichen, zerklüfteten Felsmassive oberhalb des Abgrunds sah, den sie überwinden mußten.
»Ich werde versuchen, einen Pfad zu finden. Sonst müssen wir es hier zurücklassen.«
»Hier? Allein in einem verlassenen Tal ohne Möglichkeit, hinauszukommen? Das kommt ja gar nicht in Frage!«
»So habe ich das nicht gemeint, Silje.«
Sie sah ihn voller aggressiver Trotzigkeit an. Wußte genau, was er meinte.
»Das Pferd muß hinüber«, sagte sie kurz angebunden.
»Wir brauchen es, oder nicht?«
»Doch.«
»Und es braucht uns.«
Tengel wandte sich ab, um ein kleines Lächeln zu verbergen über Siljes Entschlossenheit, die ihr hektische rote Rosen auf die Wangen gemalt hatte. Sie würde wenn nötig ihr Leben für das Pferd riskieren, das wußte er.
Wieder wurde er von einer so heftigen Zuneigung zu seiner jungen Frau ergriffen, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er zwinkerte sie rasch fort.
Schritt für Schritt arbeiteten sie sich zwischen zerklüfteten Felsen und über verwitterte Steinblöcke voran. Sie versuchten es hier und dort, liefen sich fest, mußten umkehren und eine andere Möglichkeit probieren. Das Pferd war zweifellos das größte Problem, aber jetzt waren alle fest entschlossen, es hinüber zu bringen.
Dann kam der unvermeidliche Augenblick, wo sie alle sich umwandten und einen letzten, bekümmerten Blick hinunter in das verlassene, zerstörte Tal des Eisvolks warfen.
Sie konnten es fast nicht mehr sehen. Aber sie wußten, daß sich ihr Zuhause irgendwo dahinten unter dem dichten Rauchteppich befand, der über dem Tal lag.
Dorthin würden sie niemals mehr zurückkommen.
Lange standen sie ganz still. Dag weinte, versuchte es aber zu verbergen, denn er wollte nicht zeigen, wieviel er begriffen hatte. Tengel legte seinen Arm um ihn.
»Ich werde das Tal vermissen«, sagte Silje mit halberstickter Stimme. »Wir haben so viele gute Erinnerungen daran. Wir - unsere kleine Familie - waren glücklich dort.«
»Ja.«
»Deshalb sollten wir nicht nachtragend sein, daß die älteren Kinder die unseren gequält und unterdrückt haben. Wenn man selbst nichts hat, worauf
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