Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
mehr. Sie bedankte sich inständig für weitere sichtbare und unsichtbare Beweise seines Begehrens. Ottilie konnte ihn unberührt haben.
Wenn sie richtig nachdachte, dann war sie wirklich sehr müde. Außerdem fühlte sie ich nach dem langen Ritt wie ein mürbe geklopftes Stück Fleisch. Es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.
5. KAPITEL
Die Geschwister waren in alle Winde verstreut. Zu Hause auf Lindenallee diskutierte Are mit seinem Vater und Charlotte übet Forstwirtschaft. In Kopenhagen befand sich Dag im Endspurt seines Examens, und Sol war wegen Hexerei aus Kopenhagen vertrieben worden und ritt jetzt durch Skäne.
Die drei Geschwister waren im großen und ganzen glücklich. Schlechter stand es da um Liv, sie war vielleicht diejenige, die das Beste verdient hätte, so aufopfernd und freundlich und sehr den Menschen zugetan.
In dem wohlhabenden, jedoch nicht sonderlich gemütlichen Haus in Oslo kämpfte Liv ihren fast aussichtslosen Kampf, ihrem Mann zu Gefallen zu sein. Am Tage, wenn er im Kontor war, hatte ihre Schwiegermutter freie Bahn, über das gehorsame Mädchen zu verfügen, und am Abend mußte sie dem Ehemann zu Diensten sein. Laurents streichelte ihr abwesend über den Kopf und fragte, wie es seinem kleinen Honigschnäuzchen denn ergangen sei. Er hörte jedoch nicht zu, wenn sie ihm ein wenig von ihrem Tagesablauf erzählte. Nicht, daß so viel zu erzählen gewesen wäre. Und über die Erniedrigungen hatte sie gelernt, zu schweigen. Als sie einmal darüber gesprochen hatte, war Laurents scharf geworden und hatte sie der Undankbarkeit bezichtigt. Seine Mutter war alt und hilfsbedürftig, das mußte sie doch begreifen - und trug er sie nicht auf Händen? Einmal hatte sie ihn um mehr Selbständigkeit gebeten, um ihm zu beweisen, wozu sie imstande war. Gern, hatte er geantwortet. Geh in die Küche und bitte den Koch um Erlaubnis, einen Kuchen zu backen, meine Liebe! Danach hatte sie es aufgegeben.
Ihre Schwiegermutter scheuchte sie von ihrem Sofa aus hin und her - an diesem Frühlingstag wie an allen anderen Tagen. Liv rannte das eine Mal nach der Konfektschale, dann um den Spiegel oder den Bierkrug zu holen, dennoch brachte die alte Frau es fertig, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden.
»Niemand kümmert sich um meine Qualen«, jammerte die Schwiegermutter und griff sich ans Herz. Auf der falschen Seite, aber das wagte Liv nicht anzumerken. »Mein Sohn redet nur von Geschäften, und meine Schwiegertochter ist zu faul und denkt nicht an meine Wünsche und Bedürfnisse.«
»Was wünscht Ihr denn, liebe Mutter?« fragte Liv scheu. »Ach, wie kannst du mir denn helfen, du denkst doch nur an dich! Ich liege hier allein. Vergessen. Gleich nachdem du hinunter zum Essen gegangen bist, bekam ich einen Herzanfall. Mein armes Herz kann nicht damit leben, daß mein Sohn so miserabel verheiratet ist. Hilflos habe ich hier gelegen… einsam… voller Angst… « »Ich wußte nicht…«
»Ich habe gerufen«, stöhnte die Schwiegermutter. »Aber niemand hat darauf reagiert. Niemand konnte mir helfen.« Schuldgefühle durchfluteten Liv, weil sie zum Frühstück hinunter gegangen war. Mit dem schlechtesten Gewissen der Welt fragte sie die Schwiegermutter, ob sie etwas zu essen haben wolle.
Nein, sie hatte keinen Hunger. Konnte keinen Bissen hinunterbringen. Denn sie hatte sich heimlich fünfzehn Sahnepfannkuchen einverleibt. Seit vielen Tagen hatte sie keinen Appetit mehr gehabt. Sie hatte nun nicht mehr so viel Zeit nach. Aber wen kümmerte das schon? »Es ist deine Schuld, Liv, wenn ich sterbe. Ich will, daß du das weißt - und es nicht vergißt!«
Liv blickte hinunter auf ihre Hände. »Dann… ist es vielleicht das beste, wenn ich auch zu Hause bleibe? Die Frau von einem Kollegen von Laurents hat mich heute zu sich eingeladen, wie Ihr wißt, aber wenn Ihr Euch nicht wohl fühlt, Mutter …«
Die Stimme der Schwiegermutter blieb streng. »Ach so, sie hat dich eingeladen und nicht mich! Ja, geh nur, das ist ja mal wieder typisch für dich, daß du nur an dein Vergnügen denkst. Geh nur, nimm auf mich keine Rücksicht, was macht das schon!«
Es war Livs erste eigene Einladung, und sie hatte sich gefreut, für eine Weile aus dem Haus zu kommen, obwohl ihr klar war, daß sie aus reiner Höflichkeit eingeladen worden war. Liv wurde im Bekanntenkreis der Familie Berenius nicht akzeptiert, sie stammte schließlich nicht aus dem Osloer Bürgertum und zählte deshalb nicht mit. »Ich kann eine Absage
Weitere Kostenlose Bücher