Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
rücksichtsloser Verbrecher? Sol bekam unweigerlich einen Anflug von schlechtem Gewissen. Sie haßte Skilies neue, beschützende Haltung. Wenn Sol auf etwas stolz war, dann war es auf ihre eigene Selbständigkeit.
Nun trieb er sie auch nicht mehr so gnadenlos an. Am Ende des Romelebergkammes blieb er stehen. »Ihr könnt hier solange warten. Ich werde in der Umgegend nach einem Nachtquartier suchen.«
Die Sonne stand am Horizont. Sie befanden sich in einem waldigen Gebiet, und die Drossel sang einsam in den Bäumen. Sol und Jörgen stiegen von den Pferden und reckten sich.
»Da spürt man seinen Hintern«, sagte Sol unverblümt, und natürlich mußte Jörgen wieder rot werden. Was glaubte er denn? Daß feine Damen nichts hatten, worauf sie saßen? Jörgen wollte die Unterhaltung fortsetzen, die sie beim Frühstück begonnen hatten. Sol jedoch hatte die Lust verloren, ihn zu verführen. Er war zu unschuldig und zu grün hinter den Ohren, fand sie. Wie sie zu Dag gesagt hatte: Sie wollte einen haben, der »rangeht«.
Dennoch ließ sie ihn sich etwas vortasten. Ließ ihn ihr Gesicht streicheln und sie mit den Lippen berühren, und sie wies ihn zurecht, als sie fand, er habe sich allzu unbeholfen angestellt. Sie erzählte ihm, welche Worte ihrer Meinung nach eine ehrbare Jungfrau hören wollte und begleitet von großem Zweifel ließ sie ihn die Konturen ihres Körpers ertasten.
Doch weiter wollte keiner von ihnen gehen. »Das ist für sie eine heilige Sache«, sagte Sol. »Du kannst deine Hände nicht beschmutzen, indem du eine anderen Frau anrührst.« Dem stimmte er zu, Sol jedoch sah, daß es ihm schwer fiel. Seine Hände und auch seine Lippen zitterten, und er klemmte auf kindische Weise die Beine zusammen. Sol hatte nicht die geringste Lust auf ihn.
Sie begann den Sattel vom Pferd zu nehmen, um ihn abzulenken. Doch in ihrem Inneren war sie recht unruhig. Ich muß vollkommen gefühlskalt sein, dachte sie bekümmert. All diese Berührungen hätten mich erregen müssen, aber ich fand es nur langweilig.
Jacob Skille kehrte zurück und rettete sie aus der peinlichen Situation. »Ich habe in der Nähe keine Gebäude gefunden. Sollen wir weiterreiten oder sollen wir hier unser Lager aufschlagen?«
»Wir bleiben«, entschied Jörgen. »Ich glaube, die Pferde brauchen Ruhe.«
Und so geschah es. Sol breitete die Decken aus, während sie Jacob Skille von der Seite betrachtete. Er hat sich verändert, fand sie.
Aber ihr wurde schnell klar, daß sich ihre Einstellung ihm gegenüber verändert hatte. Und sie dachte weiter, daß das an Jörgens unbeholfenen Berührungen liegen mußte. Skille war der Starke, der Anführer, der über sie alle bestimmte. Er war groß und körperlich stark, ein derber Krieger, der an Frauen nicht interessiert war. Wenn man sein Gesicht studierte, entdeckte man an ihm eine gewisse Anziehungskraft. Er war kein Adonis, ganz im Gegenteil, seine Augen aber besaßen eine Glut und eine Schärfe, die sie anzogen. Er hatte gesunde, starke Zähne und braungebrannte Haut. Etwas unrasiert war er, etwas Wasser für Gesicht und Hände hätte nichts geschadet, und auch eine Schere für die wild wuchernden Haare nicht. Sein Körper aber bewegte sich geschmeidig und leicht, den Bewegungen haftete etwas Unwiderstehliches an.
Sol holte tief Luft. Ich bin doch gar nicht so gefühllos, dachte sie.
In all den Jahren, in denen sie Tengel bei der Arbeit mit den Kranken geholfen hatte, hatte sie ihr Interesse an Männern und Erotik gebändigt. Tengels Wut saß so tief in ihr, daß sie alles getan hätte, um ihn zufriedenzustellen.
Nun aber war die Vaterfigur Tengel, der einzige Mensch auf der Welt, vor dem sie Respekt hatte, weit fort. Sie war frei, ebenso frei von den Banden an Richter Strahlenhelm und seine Familie und von Dag. Niemand konnte wissen, was sie zwischen dem Abschied in Kopenhagen und ihrer Rückkehr nach Norwegen getan hatte. Diese Freiheit würde sie auskosten!
Auf die eine oder andere Weise. Sie wußte nur noch nicht so genau, wie.
Es war keine Zeit für ein abendliches Gespräch. Nachdem sie die recht spartanische Mahlzeit verzehrt hatten, rollte sich Skille in seine Decke und befahl den anderen, es ihm gleichzutun, Dann wünschte er eine gute Nacht. Zum Glück lag Sol so, daß Jörgen keine Möglichkeit hatte sich ihr zu nähern.
Dafür war sie dankbar. Weitere herumfingernde Jünglingsberührungen wollte sie nicht zulassen, und sie ertrug auch keine zitternd in ihr Ohr geflüsterten Worte
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