Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
aufgebraucht.
Dies ist also der Tod, den das Schicksal für mich vorgesehen hat, dachte Naemy benommen.
Kampflos und allein. An-Rukhbar muss mich nicht einmal selbst töten. Er braucht nur abzuwarten.
Die Gedanken schwebten wie Nebelschleier durch das gemarterte Bewusstsein der Elfe. Sie spürte keine Furcht vor dem Tod. Einzig der Gedanke, dass das Amulett - der Schlüssel zum Tor-An-Rukhbar in die Hände fallen würde, hinderte sie daran, aufzugeben. Der orangefarbene Stein lag offen in ihrer Hand, aber noch zögerte An-Rukhbar, danach zu greifen.
Das gab den Ausschlag. Obwohl inzwischen jeder Muskel ihres Körpers schmerzte und sie kaum
noch klar denken konnte, sammelte Naemy ein letztes Mal ihre Kräfte. »Du bekommst es nicht!«, rief sie zornig und schleuderte das Amulett in das gleißende Licht hinaus.
Darauf ging alles sehr schnell. An-Rukhbar brüllte zornig auf, und sein Schatten kam bedrohlich nahe, doch die Nebelelfe spürte nichts davon. Ihre Kraftreserven waren aufgezehrt, der letzte Atemzug getan. Ermattet schloss sie die Augen. An der Schwelle des Todes tat sich ein langer dunkler Tunnel vor ihr auf, an dessen Ende ein goldenes Licht Wärme und Frieden verhieß. Ein winziges orangefarbenes Flämmchen bewegte sich inmitten des Tunnels auf dieses Licht zu, doch Naemy beachtete es nicht. Sie wollte nichts als schlafen. Schlafen und vergessen. Und so bemerkte sie nicht, wie ein milder Luftstrom ihren Körper anhob und sie mit sanftem Wiegen durch den Tunnel trug; sie hörte nicht das zornige Brüllen des Dämonenfürsten, das von unten in den Tunnel drang, und auch nicht die liebliche Melodie, die aus den Tiefen des Tunnels leise auf sie zuschwebte. Ohne die Augen zu öffnen, strebte sie dem Ende des Tunnels entgegen, während eine wispernde Stimme ihr zuflüsterte, dass sie nun endlich ihre verlorenen Brüder und Schwestern wiedersehen würde. Wärme und Helligkeit umfingen Naemy, als sie das Ende des Tunnels erreichte. Vorsichtig hielt sie die Augen geschlossen, doch das Licht war sanft und gütig, und die feinen Elfensinne sagten ihr, dass hier keine Gefahr drohte. Dennoch wollte sie die Lider noch nicht aufschlagen, um das wohlige Gefühl von Geborgenheit, das sie umfing, ein wenig länger zu genießen.
Schon oft in ihrem langen Leben hatte sie sich gefragt, wie es sein würde, den letzten Weg zu
gehen. Als sie noch jung gewesen war, hatte sie sich davor gefürchtet, doch mit jedem Sommer, der verstrichen war, hatte der Gedanke, was sie wohl nach dem Tod erwartete, weiter an Schrecken verloren, und jetzt, wo sie seine Nähe spürte, konnte sie sogar die leise Sehnsucht der Alten nach den Ewigen Gärten des Lebens verstehen.
Sie kehrte heim!
Nicht nach Caira-Dan, in die Hauptstadt der Nebelelfen,-die in den letzten zweihundertfünfzig
Sommern ihre Heimat gewesen war und in der sie ihren Sohn Tabor zur Welt gebracht hatte, nein! Sie kehrte wahrhaft heim. Heim zu den Wurzeln allen Lebens. In den Schoß der Gütigen Göttin. An jenen geheimnisumwobenen Ort, der Anfang und Ende zugleich war und den die Elfen in ihren Gebeten die »Gärten des Lebens« nannten.
I Sie kehrte heim und war glücklich. Der Kreis hatte sich geschlossen. Alles war gut und richtig. Ganz kurz flackerte der Gedanke in ihr auf, dass es schön wäre, wenn Tabor wüsste, wie es hier sei. Doch Naemy fühlte sich viel zu glücklich, um länger darüber nachzudenken, und der Gedanke trieb davon, bevor sie ihn fassen konnte.
»Ich grüße dich, Naemy. Meine Tochter, mein Kind . . . meine getreue Dienerin.« Aus dem Licht erhob sich sanft eine körperlose Stimme. Naemy erschauerte. Sie wusste, dass es nur die Gütige Göttin selbst sein konnte, die sie hier an der Schwelle des Totenreichs ansprach. Ehrfürchtig sank sie auf die Knie und blickte sich um. Das Licht war noch immer allgegenwärtig, doch es hatte an Kraft verloren. Im Hintergrund konnte Naemy undeutlich eine Wand mit gewölbten Fensteröffnungen erkennen. Ihr blieb jedoch nicht die Zeit, sich genauer umzuschauen, denn inmitten des Lichts sah sie eine hoch gewachsene Frau auf sich zukommen, die anmutige Gestalt in ein helles, fließendes Gewand gehüllt. Das fein geschnittene Gesicht wurde von kunstvoll hochgesteckten goldenen Haaren eingerahmt, und die Haut war so blass wie die Farbe des Gewandes.
»Meine Tochter«, sagte sie noch einmal mit warmer Stimme und lächelte milde.
»Heilige Mutter allen Lebens«, murmelte Naemy und senkte ehrfürchtig den Blick. Ihr
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