Der Greifenmagier 2 - Land des Feuers
Kapitel 1
Gerent Ensiken saß auf einer schmalen Palette im untersten Keller des Stadthauses der Familie Antirdan und wartete. Er lehnte sich an das grobe Mauerwerk, streckte die Beine aus und lauschte dem über ihm auf der Erde tobenden, grimmigen Wüstenwind, der den Sand vor sich her peitschte und auf dem Straßenpflaster alles bis auf den nackten Boden hinwegfegte. Deutlich vernahm er den grausamen Sturm, den scheuernden Sand, das leise Knacken, wenn in der Ferne Fenster platzten, das Bersten von Holzbalken und den Einsturz von Mauern: die Zerstörung der Stadt durch den rücksichtslosen Wind und die unbarmherzige Hitze. Manchmal schien die Erde, die ihn umgab, im Einklang mit dem Sturm über ihr zu beben.
Natürlich lag der Keller tief. Vielleicht bildete sich Gerent nur ein, dass er diese Geräusche hörte. Vielleicht bildete er sich das gelegentliche leichte Beben der Erde ja auch nur ein. Wenn er jedoch die erste Treppe zum oberen Keller erstieg und dann die zweite Treppe zur Küchentür ... Wenn er das täte, würde er dort sicherlich dem Sturm begegnen. Mit Sicherheit war dieser tobende Wüstenwind inzwischen aus dem Norden herabgefegt und über Melentser hergefallen. Er füllte die Welt dort draußen aus; und es wäre gefährlich, diese Treppen hinaufzusteigen.
Doch falls er sich die undeutlichen Geräusche der Verwüstung nur einbildete, wenn der Sturm noch gar nicht eingetroffen war ... dann konnte es für Gerent noch gefährlicher werden.
Denn erst wenn der Sturm gekommen war und Melentser zerstört und sich seine Kraft erschöpft hatte, konnte Gerent gefahrlos den tiefen Keller verlassen. Er legte den Kopf auf die Seite und lauschte. Vielleicht existierten das ferne Heulen des Sturms und das scheuernde Zischen des Sandes wirklich nur in seiner Einbildung ... Vielleicht aber waren diese Geräusche keineswegs eingebildet. So oder so, er hatte nicht vor, diese Treppe hinaufzusteigen. Nicht, bis er sich absolut sicher sein würde, dass die ganze Fellesteden-Hausgemeinschaft ein gutes Stück von ihm entfernt war – und bis er dem Sturm reichlich Zeit gegeben hatte, einzutreffen, durch die Stadt zu peitschen und zu ersterben.
Nach den Principia Magicoria des Andreikan Warichteier konnte ein Fluchgelübde einzig und allein durch eine genügend große Entfernung gebrochen werden. Pekorichen hingegen vertrat wie die meisten anderen Autoritäten die Auffassung, dass nur der Tod das vermochte. Wie Warichteier seine Theorie geprüft hatte, blieb freilich klar: Denn niemand, der durch ein Fluchgelübde gebunden war, konnte denjenigen verlassen, der »das andere Ende der Kette hielt«, solange es ihm nicht erlaubt wurde. Doch Gerent hatte überhaupt nicht Perech Fellesteden verlassen. Er hatte es einfach nur zugelassen, dass Fellesteden von ihm fortgegangen war.
Wenn das Fluchgelübde tatsächlich brach, wäre das die beste Lösung. Sollte es jedoch nur in einen Ruhezustand übergehen, würde das ausreichen. Falls Gerent nur nicht gezwungen war, seinem Meister auf der Straße nach Süden zu folgen, müsste er gut zurechtkommen. Im Augenblick fühlte er sich einfach nur unbehaglich. Er wusste, dass Fellesteden sicher über ihn erbost war. Aber umschlossen von Stein und Erde konnte er den Ruf seines Meisters nicht hören, zudem war er blind für dessen unzweifelhafte Wut. Das Fluchgelübde konnte ihn nicht zwingen, einem Mann zu folgen, der gar nicht hier vor Ort war.
Zumindest hoffte Gerent das inbrünstig.
Die Ankunft der Wüste hatte alle Menschen in Melentser zu einem chaotischen Rückzug nach Süden gezwungen. Ihr Weg führte über Straßen, die nie für eine solch gewaltige Anzahl von Flüchtlingen gedacht gewesen waren. Oder ... wahrscheinlich doch nicht alle. Gerent fragte sich, wie viele andere Menschen sich ebenfalls in Kellern und Brunnen versteckten und darauf warteten, dass die Wüste die aufrechten Bürger von Melentser aus der Stadt trieb. Die Verzweifelten, die Dummen, die Verrückten, die Unglücklichen, die verkrüppelt und mittellos zugleich waren: Wahrscheinlich überlebten nur wenige der letzten Einwohner den Fall Melentsers um mehr als etwa einen Tag.
Gerent zählte sich selbst eher zu den Verzweifelten als zu den Dummen oder Verrückten; und er hoffte, dass er nicht noch einen Grund finden würde, diese Einschätzung zu ändern. Er hatte die wenigen Tage, die für die Vorbereitungen geblieben waren, gut genutzt. Niemand hatte in den zurückliegenden Tagen sorgfältig Buch über die
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