Die Sanddornkönigin
Boutique im Hochparterre, schick und sonnig und über fünfzig Quadratmeter groß. Nun war dort der Wintergarten für den Nachmittagstee der Hausgäste. Sie konnte es einfach nicht. Sie wollte es nicht. Sie hatte keine Ideen. Sie war ausgebrannt.
Es war wie eine Strafe gewesen, dass sie nun im Keller saß und Hemdsärmel kürzte, damit sie beim Servieren nicht in der Bratensauce hingen. Und Hilke war noch nicht einmal unglücklich deswegen, sie war einfach zu müde zum Unglücklichsein.
Vorhin, da war sie für einen kurzen Moment aufgewacht aus ihrer Lethargie, da hatte sie Wut gespürt, eine schmerzhafte, brennende Wut, die sie hatte toben lassen, und sie war froh, dass es nun wieder vorbei war. Lieber im Niemandsland als in der Hölle, dachte sie.
Dr. Gronewoldt hatte ihr versprochen, morgen Vormittag zu kommen. Daran hielt sie sich fest, darüber machte sie sich Gedanken. Alles nur, damit sie nicht an Thore denken musste und diese rothaarige Schlange, mit der er nach dem Tennisspielen ins Bett ging. Oder an Fokke, der ihr aus dem Weg ging, weil sie ihn vergrault hatte. Weil sie ihn mit all der Mutterliebe überschüttete, die er wahrscheinlich eher hätte gebrauchen können. Jetzt nicht mehr, nun war er schon ein Mann.
Niemand kam herein, um einen Kaffee mit ihr zu trinken, niemand hielt ein kurzes Schwätzchen in ihrer Nähstube. Sie würde es auch nicht vermissen, wenn sie nicht aus den Wäscheräumen nebenan fröhliches Gekicher hören würde und aus der Küche die Musik aus dem Radio, zu der die anderen um die Wette sangen. Heute hatte sie außer mit ihrem Therapeuten mit keiner Menschenseele ein Wort gewechselt. Sie war an ihre Grenzen gestoßen, sie wusste, mehr konnte sie nicht ertragen. Und doch war es genauso wie immer.
Hilke zog mit der hellblauen Schneiderkreide den Strich eine gute Handbreit über dem paillettenbesetzten Saum des Abendkleides. Es würde schwierig werden, eine unsichtbare Naht zu legen, der orangefarbene Stoff war mit feinem Seidengarn fest gewebt, und die dünne Nadel musste exakt zwischen Kette und Schuss durchgleiten, sonst würde man die Löcher sehen. Es war ein Haufen Arbeit. Und das für nichts. Denn die Frau, an der dieses Kleid abgesteckt wurde, würde es nie tragen. Ronja Polwinski wird das Fest nicht feiern. Dann ist sie schon kalt und steif.
Wenn am Samstag im Hotel das Essen serviert wird, dann liegt sie schon auf irgendwo auf einem kühlen Tisch, während ein ganz anderer Schneider akkurate Nähte auf ihren Körper malt. Er wird mit dem Skalpell tief in ihre blasse Haut schneiden, während das Kleid unbenutzt im Schrank hängt. Denn das Fest, das findet trotzdem statt, ohne die Königin zwar, aber das wird niemanden stören.
Sie selbst würde Ronja am wenigsten vermissen, im Gegenteil, sie würde Champagner trinken wie seit unzähligen Tagen nicht mehr. Den letzten Champagner hatte sie mit ihrer rothaarigen Freundin getrunken, sie hatten eng nebeneinander auf dem Sofa gesessen und entsetzlich viel gelacht, über Thore sogar. Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich über ihren Mann hatte lustig machen können. Und als ihr der perlende Schaumwein über die Lippen lief, hatte Ronja ihn flüchtig und zärtlich zugleich fortgeleckt. Ihr war damals das Herz stehen geblieben vor Genuss. Dann war Ronja aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen, wortlos. Von diesem Tag an war Hilke vor ihr auf der Hut gewesen.
Hilke gab sich ihren Bildern hin. Wie eine Melodie im Kopf umhersummt, so wehten Bilderketten an ihrem inneren Auge vorbei. Gewalt und Schock, Trauer und Rache, sie nähte es alles in den Saum ein und lächelte. Mechanisch ging sie ihrer Arbeit nach. Orangefarbenes Garn, silberne Nadel, hellblaue Schneiderkreide.
Heller Sand, schwarze Dornen, rotes Blut.
»Schatz, du bist so fleißig.« Thore stand auf einmal in der Kammertür und riss sie aus ihren Gedanken. Sie erschrak, er verirrte sich selten hierher. »Ich habe heute ein Fax bekommen, vom Büro des Ministerpräsidenten. Er hat sein Kommen zugesagt, mit Frau und zwei Gefolgsleuten. Sie überlegen, eventuell den nächsten Parteitag hier abzuhalten. Bei uns! Dann wären wir in aller Munde. Wäre das nicht wunderbar?«
»Was willst du, Thore?«, fragte sie ohne aufzublikken.
»Wir brauchen noch ein Tischarrangement zusätzlich.«
Sie rechnete einen Baldachin, drei Decken, vier Servietten, vier Meter Tischläufer. Sechs Stunden Arbeit. Und dann noch das verdammte Abendkleid. Der Berg, den sie sowieso nie
Weitere Kostenlose Bücher