Die Sanddornkönigin
bezwingen würde, wuchs noch ein wenig höher in die Unerreichbarkeit, und sie fühlte sich klein.
»Du musst es nicht tun, wenn du es nicht schaffst. Ich könnte die zwei Polenmädchen aus der Mangelstube fragen, sie können auch hervorragend nähen. Ruckzuck.« Seine Stimme klang weich und verständnisvoll und zerschnitt ihr die Nerven, die schon zum Zerreißen gespannt gewesen waren.
»Ich bin wieder zu lahm. Alle anderen können es besser und schneller, und billiger wahrscheinlich auch. Sag doch, was du wirklich denkst.«
Thore verdrehte die Augen und stöhnte. »Meine Güte, nein, so war es nicht gemeint, ich…«
»Hör doch auf. Ich kenne das Lied. Es hängt mir schon zum Hals raus. Ich bin überflüssig, ich bin uneffektiv, ich blockiere dich…«
»Hilke, du solltest dich mal hören mit deinem ewigen Gejammer. Ich wollte dir doch nur etwas Arbeit abnehmen, aber du fängst gleich wieder an und…«
Den Rest konnte sie nicht verstehen. Wie ein kleines Kind hielt sie sich die Ohren zu und ließ ihn reden. Sollte er doch seine blöden Hotelfloskeln ins Nichts blöken, es war nicht schade darum. Früher einmal hatte er Worte gesagt, die es wert waren, gehört zu werden. Das war noch zu der Zeit, als ein Familienfoto auf seinem Schreibtisch gestanden hatte und sie im Winter das Hotel schließen mussten, weil es sich nicht richtig heizen ließ. Dann hatte Thore an den langen Winterabenden mit seinen Töchtern Drachen gebaut und ihnen Seemannsgeschichten vorgelesen. Doch als die Kinder seiner Ansicht nach keine Kinder mehr waren, da hatte er auf einmal nach dem Abendessen über irgendwelchen Plänen gesessen, hatte sich mit Architekten getroffen, an Fortbildungsseminaren teilgenommen und die Mädchen ins Internat gegeben. Und im Winter darauf hatte sich ihr Hotel zu verändern begonnen, es wurde größer, moderner, komfortabler und geschmackvoller, aber es war schon sehr bald nicht mehr ihr Hotel gewesen. Es war seines. Er hatte sie nie gefragt, ob sie es so wollte. Und sie hatte es ihm nie gesagt. Thore benutzte Ausdrücke wie »Spiel der Farben« und »Konversation der Kontraste«, doch damit meinte er nicht sie, sondern die Möblierung im Kaminzimmer. Und schließlich hatte sie begonnen, sich die Ohren zuzuhalten.
»Bist du fertig?«, fragte sie, als sie sah, dass seine Lippen sich nicht mehr bewegten.
»Wenn ich doch nur wüsste, was du willst«, sagte er, und in seinem Blick war so etwas wie Mitleid.
»Vielleicht kann Ronja mir ja ein bisschen zur Hand gehen«, keifte sie und spürte, dass ihr Mund trocken war vor Wut.
»Lass es, Hilke, okay?« Er wandte sich zum Gehen, blieb dann aber doch stehen. »Sie konnte nicht nähen wie du, sie konnte auch nicht so schöne Tischdekorationen zaubern. Ihr fehlte deine bescheidene, freundliche Art. Ich hätte sie mir nie als Mutter meiner Kinder gewünscht, und sie hätte einer Familie auch nie ein Zuhause schaffen können wie du.« Er lächelte sie an. »Aber sie war verdammt noch mal die hundertprozentig bessere Hoteliersfrau.«
Hilke war, als wachte sie auf, als ziehe jemand die dunklen Vorhänge zur Seite und ließe Licht und frische Luft herein. »War? Ist sie weg?«
»Sie ist tot. Ermordet. Ronja wurde heute Morgen tot in den Dünen gefunden. Und du kannst mich ansehen, wie du willst, ich bin mir sicher, du wusstest es als Erste.« Er knallte die Tür hinter sich zu.
Hilke zerdrückte den Seidentaft in ihren Händen und stach sich dabei mit der silbernen Nadel in den Finger, ohne es zu fühlen. Unbemerkt tropfte ihr Blut auf den Stoff.
Wenn sie nur wüssten, wie er ist, dachte sie. Wenn sie nur alle wüssten, wie er wirklich ist.
Ein deutscher Schlager dröhnte aus den Boxen.
»Hölle, Hölle, Hölle, Hölle!«, grölte die Menge.
Ein wenig geschmacklos fand Fokke es schon, wenn man an Ronja Polwinski dachte. Denn wenn es überhaupt ein Unten und Oben jenseits des Jetzt und Hier gab, dann schmorte Ronja mit Sicherheit in dieser Hölle.
Als der erste Schock überstanden war, hatte es ihn nicht länger in seiner kleinen Bude unterm Dach gehalten. Er hatte sich geduscht und aufs Fahrrad geschwungen. Nun stand das dritte Glas Bier vor ihm. Berti, der Wirt in der »Spelunke«, schenkte so lange nach, bis man daran dachte, den Bierdeckel auf das Glas zu legen. Ronjas gewaltsames Ende war für ihn zwar kein Grund, sich sinnlos zu betrinken, aber ganz nüchtern bleiben wollte er auch nicht. Auf jeden Fall wollte er Menschen um sich haben, lebendige
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