Die sanfte Hand des Todes
auf, in dem sie ihre Projektskizzen sammelte. Ganz oben auf dem Stapel lag der aktuelle Notfallplan des Krankenhauses.
Im Brandfall , stand auf der ersten Seite, sind alle Patienten der Notaufnahme angehalten, sich in einer Reihe aufzustellen und die Ruhe zu bewahren.
Wer um alles in der Welt hatte sich diesen Unsinn ausgedacht? Ganz offenbar handelte es sich um jemanden, der noch nie in einer Notaufnahme gearbeitet hatte. Dawn hegte keine Illusionen darüber, wie sich moderne Großstädter in einer Extremsituation verhalten würden. Dann würde nur noch das Gesetz des Stärkeren zählen. Die Krankenhausleitung wäre vollkommen überfordert und möglicherweise sogar gezwungen, die Armee zu rufen. Dawn konnte es nicht mit Sicherheit wissen, schließlich hatte sie keinen Zugang zu höchsten Regierungskreisen – aber sie vermutete, dass im Fall einer nationalen Katastrophe nur noch gesunde, gut ausgebildete Männer und Frauen im zeugungs- und gebärfähigen Alter mit einer medizinischen Versorgung rechnen konnten, und bei dem Gedanken beschlich sie ein seltsames Gefühl. Nach diesen Kriterien könnte sie in ein paar Jahren selbst keinen Anspruch auf eine medizinische Behandlung mehr erheben.
Sie verdrängte den Gedanken und machte sich daran, ihre Skizzen an die Wände des Büros zu heften. Sie würde klare Verhaltensrichtlinien formulieren, die im Notfall schnell begriffen und umgesetzt werden konnten, und dabei von einer schlechten Versorgungslage, einer zusammengebrochenen Stromversorgung und Personalmangel ausgehen. Im Katastrophenfall wäre die Krankenhausleitung wohl kaum in der Lage, zusätzliche Hilfskräfte einzustellen; möglicherweise würden sogar diejenigen, die zum Dienst eingeteilt waren, zu Hause bleiben, um sich um ihre Familie zu kümmern.
Dawns Notfallplan richtete sich an all jene, die trotzdem zur Arbeit gingen und helfen wollten, wo sie konnten.
Sie war so in die Arbeit vertieft, dass sie jedes Zeitgefühl verlor. Als sie das nächste Mal auf die Uhr über dem Schreibtisch sah, war es zehn nach sieben. Dawn sprang auf und legte ihre Notizen in den Ordner zurück. Sicher wartete Milly schon auf ihren Abendspaziergang.
Elspeth, die heute die Nachtschicht hatte, saß hinter dem Stationstresen und las in der Hello! . Als Dawn aus dem Büro stürmte, ließ Elspeth fast die Zeitschrift fallen.
»Oh, Schwester!« Hastig schob Elspeth die Zeitschrift unter ein paar Röntgenbilder. »Sie sind immer noch da?«
»Ich wollte gerade gehen.« Dawn versuchte, besonders freundlich zu sein. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles prima. Ich wollte mich gerade auf den Kontrollgang machen.«
»Tja, dann. Gute Nacht.«
Dawn drehte sich um und lief zum Einzelzimmer, aber ihr entging keineswegs, wie Elspeth einen Blick auf ihre Armbanduhr warf und ein ungläubiger, leicht genervter Ausdruck über ihr hübsches, braun gebranntes Gesicht huschte.
Mrs. Walker lag auf ihre Kissen gestützt. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf leicht nach vorn geneigt, so dass ihr Kinn fast die Brust berührte. Sie atmete ein und hielt dann inne, bevor sie die Luft mit einem leichten Absacken der Schultern wieder ausstieß. Wahrscheinlich döste sie nur, weil sie so vollkommen erschöpft war. Besser als nichts.
Dawn verließ das Krankenhaus und trat in den trüben, verregneten Abend hinaus. Unter dem blau-weißen Leuchtzeichen am Eingang, dem Emblem des Nationalen Gesundheitsdienstes, spannte sie ihren Schirm auf. Ein Windstoß zerrte an einem riesigen Hochglanzplakat, das die internationale Forschungskonferenz bewarb: Donnerstag, 27. April. Morgen ,
dachte Dawn. Am Fuß des Hügels bebte und ächzte die Eisenbahnbrücke, als ein Güterzug darüber hinwegdonnerte. Unter der Brücke brodelte der Feierabendverkehr: Autos, Taxis, dazwischen die grün-gelben Warnleuchten der Krankenwagen. Der Bus nach Silham Vale näherte sich der Haltestelle an der St. John’s Road. Dawn verfiel in einen Laufschritt.
Sie hatte das Oberdeck für sich allein. Die rostigen Fensterrahmen gaben einen unangenehm metallischen Geruch ab. Dawn konnte das schwere Klonk-Klonk der Scheibenwischer hören. Der Bus fuhr in südlicher Richtung nach Croydon, immer am Park entlang, als Dawn plötzlich einen alten Mann entdeckte, der sich mit einer Plastiktüte in der Hand über den Rasen schleppte. Sie kannte ihn. Er war vor wenigen Monaten als Patient im St. Iberius gewesen. Geplatztes Magengeschwür, Blutvergiftung. Dawn hatte sich seinerzeit gefragt, ob
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