Die sanfte Hand des Todes
er es überleben würde, aber wie sie jetzt zufrieden feststellen konnte, lief er durch den Park – zittrig und schwach zwar, aber immerhin auf den Beinen. Sie hielt oft in den Parks und Straßen rings um das Krankenhaus nach ehemaligen Patienten Ausschau. Sie wollte wissen, wie sie aussahen, wie es ihnen ging, ob sie wieder gesund waren. Es war, als könnte sie die Menschen, die sie einmal gepflegt hatte, nicht mehr loslassen. Sie war der Schutzengel, der sie vom vorbeifahrenden Bus aus beobachtete und die Fingerspitzen an die Glasscheibe legte, um sie aus der Ferne zu beschützen.
Mitten in der Nacht wurde sie wach. Dawn setzte sich im Bett auf. Irgendetwas stimmte nicht. Im Haus war es zu still. Drei Jahre lang hatte sie nachts auf Geräusche aus Doras Zimmer gelauscht, was bedeutete, dass sie aus dem Bett gesprungen und die Treppe hinuntergelaufen war, bevor ihr einfiel, dass Dora längst nicht mehr lebte.
Sie blieb auf der untersten Treppenstufe stehen, zitterte
vor Kälte und kam sich unglaublich dumm vor. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte in der nächtlichen Stille. Ein dunkler Schatten huschte über den Teppich: Die neugierige Milly hatte ihr Körbchen in der Küche verlassen.
»Ich kann nicht fassen, dass du dorthin zurückwillst«, hatte Kevin sich vor drei Jahren beschwert, kurz nach Doras erstem Schlaganfall. »Silham Vale ist ein Drecksloch. Es liegt am Arsch der Welt! Da gibt’s doch nichts.«
»Sie ist meine Familie«, hatte Dawn sich zu verteidigen versucht. »Sie hat mich aufgezogen. Ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen.«
»Aber was ist mit unserer Wohnung? Was ist mit uns?«
»Es ist doch nur vorübergehend«, hatte Dawn ihn getröstet. »Nur, bis sie wieder auf die Beine kommt.«
Aber dann hatte ihre Großmutter einen zweiten Schlaganfall erlitten. Später erkrankte sie an Krebs. Das einzig Gute daran war, dass ihr Leid nur wenige Monate dauerte.
Als es auf das Ende zuging, wurde Dora von Krämpfen geschüttelt; ihr Gesicht war verzerrt, und ihre Arme schlugen manchmal stundenlang unkontrolliert herum. Die verzweifelte Dawn hatte immer wieder Dr. Barnes gerufen.
»Nun dauert es nicht mehr lange«, lautete seine nüchterne Prognose. »Sie haben ihr Bestes getan, sie bis an diesen Punkt zu begleiten.« Dann fügte er hinzu: »Die Krämpfe bedeuten möglicherweise, dass die Metastasen sich bis in ihr Gehirn ausgebreitet haben. Ich muss Sie warnen. Manche Patienten machen in diesem Stadium eine Persönlichkeitsveränderung durch.«
Dora veränderte sich tatsächlich. Ihr rundes, freundliches Gesicht wurde schmal und verbittert.
»Und du willst eine Krankenschwester sein?«, hatte sie Dawn beschimpft. »Ich dachte, du könntest mir helfen. Aber du tust nichts. Du lässt mich einfach nur leiden.«
»Dora …«
»Lass mich in Ruhe.« Unter Schmerzen drehte sie sich weg. »Du bist nutzlos. Ich will sterben.«
Wenige Stunden später hatte ein Blutgerinnsel ihrem Leben ein Ende gemacht.
Im Wohnzimmerschrank stand ihr Foto, dessen silberner Rahmen im kühlen Licht der Straßenlaterne glänzte. Dora stand in ihrem Garten und hatte die Arme um ein etwa elfjähriges Kind mit rosa Regenmantel geschlungen. Beide lächelten in die Kamera. An dem Tag hatten sie Grund zum Feiern gehabt, hatte Dawn zum ersten Mal seit einem Jahr wieder gelacht.
Sie war in ebendiesem Regenmantel aus Cumbria nach London gekommen, eine Woche nach dem Unfall. Die Sozialarbeiterin war auf der Suche nach der Crocus Road durch die Wohnsiedlung nördlich von Croydon gekurvt, mit Dawn auf dem Rücksitz, deren Hände, Gesicht und Gedanken hart waren vor Kälte, Elend und Verzweiflung. Sie war überzeugt gewesen, nie wieder aufzutauen. Und dann hatte sie das gelbe Rechteck aus Licht auf dem nassen Gartenpfad gesehen und die mollige Frau auf der Schwelle. Die weichen, warmen Arme der Großmutter hatten sich um sie geschlungen. »Willkommen, Dawn, mein Liebling. Willkommen daheim.«
Du bist nutzlos. Ich will sterben.
Nach einem Leben voller Liebe und Güte waren das Doras letzte Worte gewesen. Die Erinnerung daran empfand Dawn als fast unerträglich.
Kapitel 3
Dawns Wecker klingelte am nächsten Morgen um halb sechs in der Früh. Der schrille, heisere Ton bohrte sich durch die kühle Morgenluft. Regentropfen klatschten ans Fenster. Dawn streckte die Hand aus, um auf den Schlummerknopf zu drücken. So blieb sie noch für eine Weile liegen, das Gesicht ins Kissen gedrückt und eine Hand am Wecker; sie fühlte sich so
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