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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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erschöpft wie nach einer Schicht im Bergwerk. Eigentlich war sie eine Frühaufsteherin, die beim ersten Weckerklingeln aus dem Bett sprang, schon voller Pläne und Ideen für den kommenden Tag. Doch heute Morgen fühlte sich ihr Kopf so schwer und groß wie ein Kürbis an, und auch die Dusche konnte daran nichts ändern. Sie trocknete sich das Haar und versuchte, sich an ihre Termine zu erinnern. Kontrolle eines Druckgeschwürs. Ein Treffen mit einem Vertreter der Pharmaindustrie, der ihr ein neues, tragbares Reanimationsset vorstellen wollte. Sie schlüpfte in die Schwesternuniform, die sie am Vorabend gebügelt hatte, und überprüfte ihr Aussehen im Spiegel, der an der Innenseite der Kleiderschranktür hing.
    Sie strich den Stoff ihrer Uniform glatt. Das marineblaue, kurzärmelige Polyesterkleid war etwa knielang und wurde an der Taille von einem Leinengürtel zusammengehalten. Darunter trug Dawn eine blickdichte, warme Strumpfhose und schwarze Schnürschuhe. Ihr Aussehen konnte man beim besten Willen nicht glamourös nennen, aber da sie den ganzen Tag auf den Beinen war, kümmerte sie das nicht. Sie
klemmte sich ihr Namensschild an die Brusttasche, schlug den Kragen um und zog am Gürtel, bis die Schnalle genau in der Mitte saß.
    Auf einmal ließ sie die Schultern hängen. Wozu das alles? Wozu die Visiten und Kontrollen, die immer moderneren Apparate? Die Menschen wurden trotzdem krank, oder? Man konnte den Tod hinauszögern, aber egal, was man auch tat – die Menschen wurden alt, sie litten und starben. Francine hatte recht. Wozu die hohen Ansprüche? Heutzutage interessierten die jungen Leute sich ausschließlich für prestigeträchtige Berufe, am besten in den Bereichen Medien, Sport oder Mode. Sie lebten für den Moment und dachten nur an sich selbst, anstatt für andere da zu sein. Priya war eine wundervolle Krankenschwester gewesen, sanft und verantwortungsbewusst. Aber nun befand sie sich in der Babypause, und wer konnte schon wissen, ob sie jemals zurückkommen würde? An ihre Stelle waren die faule, gelangweilte Elspeth und der schnippische Clive getreten. Anscheinend hatte die Arbeitsvermittlung nichts Besseres im Angebot gehabt.
    Dawn schüttelte sich. Was war heute nur mit ihr los? Der erste kalte Morgen, und sie wollte das Handtuch werfen. Sie schnappte sich Mantel, Handtasche und Regenschirm und trat in die klamme Dunkelheit hinaus. Milly begleitete sie bis ans Gartentor, um sich dann auf ihr warmes Plätzchen auf der Veranda zurückzuziehen, in das Hundekörbchen mit der platt gelegenen Fleecedecke.
     
    Auf der Station herrschte eine solche Stille, dass Dawn sich fragte, ob sie sich in der Zeit geirrt hatte.
    »Wo sind die anderen?«, fragte sie Nachtschwester Lorna. Normalerweise waren um diese Zeit schon alle Deckenleuchten eingeschaltet, die Patienten geweckt und auf dem
Weg zum Waschraum, und die ersten Assistenzärzte trudelten zur Visite ein.
    Lorna warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Heute ist doch die große Konferenz. Die Forschungskonferenz, für die überall mit Plakaten geworben wurde.«
    Die internationale Forschungskonferenz. Natürlich! Dawn stand heute anscheinend vollkommen neben sich. Sie hatte überhaupt keine Lust, fühlte sich aber verpflichtet, sich bei der Veranstaltung zu zeigen. Sie war eine Oberschwester, und man erwartete ihre Anwesenheit, wenigstens bei der Eröffnungsveranstaltung.
    »Wie war Mrs. Walkers Nacht?«, fragte sie.
    »Schlecht.« Lorna schüttelte den Kopf. »Sie hat kaum geschlafen.«
    Dawn seufzte. »Ich werde noch einmal mit Professor Kneebone sprechen.«
    »Er war schon da«, sagte Lorna. »Er meinte, sie wird heute entlassen.«
    »Heute? Aber …« Dawn warf einen Blick ins Einzelzimmer und sah Mrs. Walker hinter der Glasscheibe. Bleich und zittrig lag sie da. »Wir können sie auf gar keinen Fall heute entlassen. Schauen Sie nur!«
    »Tut mir leid.« Lorna schob die Unterlippe vor, wie um ihr Mitgefühl zu signalisieren. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass er weiß, wie Ihnen zumute ist. Aber es sind ein paar Notfälle reingekommen, das Bett wird gebraucht.«
     
    Ein Pulk aus dunklen Anzügen und weißen Laborkitteln war in den Zuhörerraum geströmt. Alle Plätze waren besetzt, und dennoch kamen immer mehr Zuhörer herein, stellten sich in den Gängen auf, an den Wänden und hinter der letzten Sitzreihe. Professor Kneebone, todschick im Nadelstreifenanzug mit gelber Seidenkrawatte, betrat das Podium.

    »Wir sind entzückt«, dröhnte es aus

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