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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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zu kümmern. Wenn sie schon nicht weiß, was sie will, könnte sie wenigstens kooperativ sein und das Personal seine Arbeit machen lassen.«
    »Clive, sie hat Krebs. Sie leidet unter Schmerzen. Sehen Sie sie nur an.«
    Dawn wurde laut. Ihr war klar, dass Mandy herüberkommen würde, um nachzusehen, was vor sich ging; aber schon verengte sich ihr Gesichtsfeld, sie bekam einen Tunnelblick und konnte nur noch den Haferbrei auf Clives Kittel, sein verschwitztes Gesicht, sein fettiges Haar, das er scheinbar niemals wusch, sehen. Warum bloß arbeitete er in einem Krankenhaus? Er war jetzt seit acht Wochen hier und schien den Job jeden Tag mehr zu hassen. Warum hatte er sich für
einen Beruf entschieden, der ihm nicht lag? Warum kam er Tag für Tag ins Krankenhaus und pflegte Patienten, für die er offenbar nichts anderes empfand als Verachtung und Ekel?
    Sie sagte: »Holen Sie bitte Mrs. Walkers Medikamente.«
    »Das tue ich, sobald ich Zeit habe.«
    »Wie bitte?«
    Clive blähte die Nasenflügel. »Erzählen Sie mir nicht, was ich tun muss. Ich bin ausgebildeter Pfleger. Ich habe es nicht nötig, mir von Ihnen sagen zu lassen, wie ich arbeiten soll.«
    Dawn war groß genug, um fast auf Augenhöhe mit Clive zu reden. Sie machte sich noch ein bisschen größer. Um sicherzugehen, dass er sie verstand, sagte sie mit lauter, klarer Stimme: »Ich habe hier das Sagen. Und Sie werden tun, was ich anordne.«
    Sie standen einander gegenüber wie Cowboys in einem Western. Clives Pupillen waren geweitet, schwarz und voller Wut. Einen Moment lang fragte Dawn sich bange, was als Nächstes geschehen werde. In ihrer ganzen Zeit als Krankenschwester war sie noch nie auf diese Weise mit einem Kollegen aneinandergeraten. Clive hatte sie von Anfang an spüren lassen, dass er ein Problem damit hatte, Anweisungen entgegenzunehmen – er murmelte vor sich hin, erledigte bestimmte Aufgaben aufreizend langsam –, aber nun brachte er seine Verachtung für sie ganz unverhohlen zum Ausdruck. Aber damit würde er nicht durchkommen. Wie konnte er es wagen, auf ihrer Station eine Patientin zu misshandeln? Wie konnte er nur! Die Wut kochte in ihr hoch. Die Gefühle mussten ihr vom Gesicht abzulesen gewesen sein, denn plötzlich gab er nach.
    »Ich hole das Morphium«, murmelte er.
    »Nein.« Dawn hatte ihre Meinung geändert. Sie würde ihn nicht noch einmal mit Mrs. Walker allein lassen. »Kümmern Sie sich um die anderen Patienten. Das hier übernehme ich.«

    Clives Augen blitzten, aber er widersprach nicht. Wortlos drehte er sich um und verschwand. Auf der Station war es still geworden. Niemand sprach ein Wort; die Teewagen quietschten nicht mehr, selbst das sonst unablässig klingelnde Telefon schien gespannt innezuhalten. Dawn stellte fest, dass sie zitterte. Was sollten die anderen von ihr denken, wenn sie hier mit roten Wangen und völlig aufgelöst auf dem Gang herumstand? Clive hatte sich unangemessen verhalten, aber ihr Umgang mit der Situation war ebenso unangemessen gewesen. Sie hatte einen Mitarbeiter vor den Augen der ganzen Station gedemütigt. So weit war es noch nie gekommen, noch nie hatte sie die Kontrolle verloren. Was, zum Teufel, war nur los mit ihr?
    Mandy tauchte neben ihr auf. »Ist alles in Ordnung?« Sie klang besorgt, aber auch ein bisschen erfreut. Was für eine Neuigkeit! Die Oberschwester hatte die Nerven verloren. Spätestens in der Mittagspause würde das gesamte Krankenhaus darüber Bescheid wissen.
    »Mir geht es gut.« Dawn bemühte sich, ruhig zu klingen. »Danke. Haben Sie den Schlüssel für den Tresor?«
    Im Vorratsraum schloss Mandy den Morphiumschrank auf und nahm eine Ampulle heraus. Sie und Dawn unterschrieben im Buch. Dawn nahm das Morphium mit ins Einzelzimmer. Mrs. Walker zitterte am ganzen Leib und atmete schwer. Sie hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen. So außer sich hatte Dawn sie noch nie gesehen.
    »Ich will nicht mehr«, weinte sie immer wieder. »Ich will nicht mehr.«
    »Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid. Psssst. Gleich geht es Ihnen besser.«
    Dawn injizierte das Morphium in den Tropf. Aber selbst zehn Minuten später zitterte Mrs. Walker immer noch. Der Schmerz verzerrte ihr Gesicht, und das Piepen des Monitors
blieb unverändert. Dawn betrachtete enttäuscht die Spritze. Was stimmte mit dem Zeug nicht? Genauso gut hätte sie der Patientin Wasser spritzen können.
    Und dann kam ihr zum ersten Mal ein Gedanke. Alle waren der Ansicht, das Problem liege bei Mrs. Walker. Aber

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