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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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konnte es sein, dass sie das Problem von Anfang an aus einem falschen Blickwinkel betrachtet hatten? War am Ende das Morphium das Problem?
    Sie kehrte in den Lagerraum zurück und schaltete die Neonröhre ein. Die aufgebrochene Ampulle lag immer noch auf der Arbeitsfläche. Dawn nahm sie in die Hand und überprüfte das Etikett. Sie las Wort für Wort, kontrollierte jedes Detail zweimal. Produktbezeichnung: in Ordnung. Dosierung: in Ordnung. Verfallsdatum … Die Ampulle war vollkommen intakt gewesen, als Mandy sie aus dem Schrank genommen hatte. Dawn hatte sie persönlich aufgebrochen und mit eigenen Augen gesehen, wie der Inhalt in die Spritze aufgezogen worden war. Der Hersteller, von dem sie das Mittel bezogen, genoss einen guten Ruf im St. Iberius. Noch nie hatte es mit seinen Produkten irgendwelche Schwierigkeiten gegeben.
    Nein. Am Morphium lag es nicht. Dawn schüttelte den Kopf und entsorgte die Ampullenreste im Spritzenabwurf.
    Sie ging zurück ins Einzelzimmer und setzte sich an Mrs. Walkers Bett.
    »Ich weiß auch nicht.« Sie seufzte. »Ich weiß wirklich nicht, was ich noch machen soll.«
    Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Die Dächer der benachbarten Südlondoner Wohnblöcke waren nebel verhangen, so als hätte jemand alle scharfen Kanten mit einem Radiergummi verwischt. Solange sich Mrs. Walker hier befand, konnte Dawn sie wenigstens vor den Clives und Eds und den Pflegeheimen dieser Welt beschützen. Aber in wenigen Stunden würde sie wieder in The Beeches
sein, wo man sie, so viel verriet das Druckgeschwür, tagelang in derselben Position liegen gelassen hatte. Niemand würde vorbeischauen, um nach ihr zu sehen, sie zu trösten oder sich für sie einzusetzen. Dort war sie ganz allein; sie würde ihre letzten Tage einsam und von Schmerzen gequält verbringen.
    »Ich habe Sie im Stich gelassen.« Dawn ließ den Kopf hängen. »Ich war nutzlos, nicht wahr?«
    »Bitte.« Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Bitte. Ich kann nicht mehr. Ich möchte weg.«
    »Wo möchten Sie denn hin?« Dawn lehnte sich vor und ergriff die Hände der alten Dame. »Sagen Sie’s mir. Ich verspreche Ihnen, ich bringe Sie dorthin.«
    »Ich möchte in den Himmel.«
    Mrs. Walker setzte sich auf. Das graue Tageslicht fiel auf ihr Gesicht. Die tiefen Falten um Augen und Mundwinkel verrieten, wie erschöpft sie war. Zum ersten Mal irrte ihr Blick nicht ziellos herum, sondern war fest und ruhig auf Dawn gerichtet.
    Dawn hielt diesem Blick stand.
    Sie fragte: »Sie wollen in den Himmel?«
    »Ja.«
    Der Regen trommelte weiter ans Fenster. Mrs. Walkers Blick ruhte auf Dawn. Die alte Frau hatte die Augen so weit aufgerissen, dass der graue Himmel sich darin spiegelte.
    Dawn fühlte sich wie im Traum. Sie drückte Mrs. Walkers Hände und flüsterte: »Sagen Sie nichts mehr.«
    Die Neonröhren des Lagerraums blendeten sie. Sie musste einen Moment lang warten, bis ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten. Das Morphium war natürlich weggeschlossen, und Mandy hatte den Schlüssel. Alle anderen Drogen und Medikamente befanden sich in dem riesigen Wandschrank an der Rückwand des Raums.

    Schnell. Beeil dich! Dawn trat vor das Regal und ließ den Blick über die vertrauten Fläschchen schweifen. Nie zuvor hatte sie die Medikamente unter diesem Aspekt betrachtet, aber das war kein Problem. Es war einfach nur so, dass sie die Dinge nun aus einem anderen Blickwinkel sah.
    Es kam auf zwei Punkte an.
    Erstens: Es musste schnell gehen. Die Mitarbeiter des Pflegeheims konnten jeden Augenblick eintreffen.
    Zweitens: Es musste schmerzfrei sein. Mrs. Walker hatte schon genug gelitten.
    Dawns Blick fiel auf eine Schachtel mit Plastikampullen. Jede einzelne davon trug ein Etikett mit einem violett leuchtenden Warnhinweis auf weißem Untergrund.
    Kaliumchlorid.
    Es wurde in winzigen Dosen verwendet und war das auf der Station am häufigsten benutzte Medikament. In großer Dosis direkt in den Blutkreislauf injiziert würde es ein Herz innerhalb von Sekunden lähmen. Das einzige Problem war, dass die Spritze möglicherweise wehtat. Vielleicht könnte sie ein lokal wirkendes Betäubungsmittel daruntermischen?
    Es war alles ganz einfach, wenn man sich nur auskannte.
    Dawn nahm zwei Ampullen Kaliumchlorid und zog die Flüssigkeit in eine Spritze auf. Dann fügte sie einige Milliliter eines Betäubungsmittels hinzu. Die leeren Ampullen warf sie in den Eimer. Sie steckte die Spritze ein und verließ den Lagerraum.
    Auf der Station

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