Die Satanischen Verse
Kasturba liebevoll beschwert. »Er ist ja so genannt.« Auf dem Weg zum Bett stützte er sich leicht auf Salahuddins Arm und schlurfte plattfüßig neben ihm in alten, abgetragenen Hauslatschen. Die wenigen verbliebenen Haare standen in komischen Winkeln ab, der Kopf reckte sich auf dem dürren, zerbrechlichen Hals vogelgleich nach vorn. Salahuddin sehnte sich plötzlich danach, den alten Mann aufzuheben, ihn in den Armen zu wiegen und ihm leise, tröstende Weisen zu singen. Stattdessen platzte er in diesem völlig ungeeigneten Moment mit einem Versöhnungsappell heraus: »Abba, ich bin gekommen, weil ich nicht wollte, dass es zwischen uns noch Ärger gibt…« Blöder Idiot. Der Teufel brenn’ dich schwarz, milchbleich er Lump! Und das mitten in der Nacht. Wenn er bis jetzt nicht dahintergekommen ist, dass er im Sterben liegt, dann hat es ihm diese kleine Totenbettrede geflüstert. Changez schlurfte weiter; sein Griff um den Arm des Sohns wurde unmerklich fester. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte er.
»Es ist vergessen, was es auch war.«
Am Morgen erschienen Nasreen und Kasturba in sauberen Saris, wirkten ausgeruht und mäkelten: »Es war so schrecklich, so weit weg von ihm zu schlafen, wir haben kein Auge zugemacht.« Sie fielen über Changez her, und ihre Liebkosungen waren so zärtlich, dass Salahuddin dasselbe Gefühl, einen privaten Augenblick zu stören, beschlich wie bei Mishal Sufyans Hochzeit. Er verließ leise das Zimmer, während die drei Liebenden einander umarmten und küssten und weinten.
Der Tod, die große Tatsache, wob seinen Bann um das Haus in Scandal Point. Salahuddin ergab sich ihm wie alle anderen auch, selbst Changez, der an je nem zweiten Tag oft sein altes, schiefes Lächeln lächelte, das sagen wollte, ich weiß, was läuft, ich mach’ mit, glaubt bloß nicht, ich lasse ’ mich hinters Licht führen. Kasturba und Nasreen kümmerten sich unablässig um ihn, bürsteten sein Haar, überlisteten ihn zum Essen und Trinken. Die Zunge in seinem Mund war dick geworden, verwischte seine Worte, bereitete ihm beim Schlucken Schwierigkeiten; er verweigerte alles, was fasrig oder sehnig war, selbst die Hühnerbrüste, die er sein Leben lang geliebt hatte. Ein Mundvoll Suppe, pürierte Kartoffeln, ein bisschen Vanillepudding. Babynahrung. Wenn er im Bett aufgesetzt war, saß Salahuddin hinter ihm; Changez lehnte sich beim Essen an den Körper seines Sohns.
»Öffnet das Haus«, befahl Changez an jenem Morgen. »Ich will hier lächelnde Gesichter sehen, nicht immer nur eure trüben Visagen.« Und so kamen nach langer Zeit wieder Menschen; junge und alte, Vettern, Onkel, Tanten, ein paar Kameraden aus den alten Tagen der Nationalistenbewegung, stocksteife Herren mit silbergrauem Haar, Achkan-Mantel und Monokel, Angestellte der verschiedenen Stiftungen und philantropischen Unternehmungen, die Changez vor Jahren ins Leben gerufen hatte, konkurrierende Hersteller von Pflanzenschutzmitteln und Kunstdünger. Ein wahres Sammelsurium, dachte Salahuddin, staunte aber auch, wie wunderbar sich alle in Gegenwart des Sterbenden verhielten: Die Jungen erzählten ihm vertraulich aus ihrem Leben, als wollten sie ihn versichern, dass das Leben selbst unbesiegbar sei, und ihm den tiefen Trost anbieten, ein Mitglied der großen Prozession der menschlichen Rasse zu sein, während die Alten die Vergangenheit beschworen, damit er wisse, dass nichts vergessen, nichts verloren war, dass er trotz der Jahre der selbstgewählten Einsiedelei gleichwohl mit der Welt verbunden war. Der Tod holte das Beste aus den Menschen heraus; es war gut, vorgeführt zu bekommen - das erkannte Salahuddin -, dass Menschen auch so sein konnten: rücksichtsvoll, liebevoll, ja, edel. Wir sind also doch noch zur Erhabenheit fähig, dachte er in feierlicher Stimmung; trotz allem können wir noch immer transzendieren. Eine hübsche junge Frau - Salahuddin fiel ein, dass es seine Nichte sein konnte, und schämte sich, ihren Namen nicht zu wissen - machte Polaroidschnappschüsse von Changez mit seinen Besuchern, und der kranke Mann amüsierte sich köstlich, schnitt Gesichter, küsste die vielen dargebotenen Wangen mit einem Leuchten in den Augen, das Salahuddin als Nostalgie identifizierte. »Wie auf einem Geburtstag«, dachte er. Oder: wie Finnegans Totenwache. Der Tote weigerte sich, sich hinzulegen und den Lebenden den Spaß zu überlassen.
»Wir müssen es ihm sagen«, beharrte Salahuddin, als die Besucher gegangen waren. Nasreen
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