Die Satanischen Verse
allerdings gesagt, dass er zu einer Kategorie gehört, die nicht auf Melphalantabletten anspricht.« Aber sie haben es ihm nicht gesagt, beharrten Saladins innere Stimmen.
Und das ist falsch, falsch, falsch. »Dennoch ist ein Wunder geschehen«, rief Kasturba. »Die Ärzte sagten, dies sei normalerweise eine der schmerzhaftesten Krebsarten; dein Vater aber hat keine Schmerzen. Wenn man betet, wird manchmal eine Gnade gewährt.« Aufgrund dieser ungewöhnlichen Schmerzfreiheit hatte es so lange gedauert, bis der Krebs diagnostiziert worden war; er hatte sich seit mindestens zwei Jahren in Changez’ Körper ausgebreitet. »Ich muss ihn jetzt sehen«, sagte Saladin sanft. Ein Diener hatte seine Reisetasche und seine Kleidersäcke ins Haus getragen, während sie sich unterhielten; jetzt endlich folgte er seinen Sachen hinein.
Das Innere des Hauses war unverändert - die Großzügigkeit der zweiten Nasreen gegenüber dem Andenken an die erste schien grenzenlos, zumindest während dieser Tage, den letzten ihres gemeinsamen Gatten auf Erden -, außer dass Nasreen II mit ihrer Sammlung ausgestopfter Vögel (Wiedehopfe und seltene Papageien unter Glasglocken, ein ausgewachsener Königspinguin in der Marmor-und-Mosaik-Halle, um dessen Schnabel winzige rote Ameisen wimmelten) und ihren Kästen mit aufgespießten Schmetterlingen eingezogen war. Saladin ging vorbei an dieser farbenprächtigen Galerie toter Flügel zum Arbeitszimmer seines Vaters - Chamgez hatte darauf bestanden, sein Schlafzimmer zu räumen, und sich ein Bett in das holzgetäfelte Refugium voll vermodernder Bücher stellen lassen, damit man nicht den ganzen Tag hinauf und wieder herunter rennen musste , um nach ihm zu sehen - und stand endlich vor der Tür des Todes.
Schon früh in seinem Leben hatte Changez Chamchawala die beunruhigende Fähigkeit erworben, mit offenen Augen zu schlafen, »auf der Hut zu sein«, wie er es nannte. Als Saladin jetzt leise das Zimmer betrat, war die Wirkung dieser offenen grauen Augen, die blind an die Decke starrten, absolut enervierend. Einen Augenblick lang glaubte Saladin, er sei zu spät gekommen, Changez sei gestorben, während sie sich im Garten unterhalten hatten. Doch dann hüstelte der Mann auf dem Bett ein paarmal, drehte den Kopf und streckte unsicher seinen Arm aus. Saladin Chamcha trat zu seinem Vater und neigte den Kopf unter die zärtliche Hand des alten Mannes.
Sich nach den langen, zornigen Dekaden in den Vater zu verlieben, war ein heiteres und schönes Gefühl; etwas Erneuerndes, Lebensspendendes, wollte Saladin sagen, tat es aber nicht, da es vampirhaft kla ng; als schaffte er in Changez’ Körper Platz für den Tod, indem er dieses neue Leben aus seinem Vater saugte. Obwohl er es für sich behielt, fühlte Saladin sich stündlich vielen alten zurückgewiesenen Ichs näher, vielen Alternativ-Saladins -oder besser Salahuddins -, die sich von ihm abgespalten hatten, als er seine verschiedenen Lebenswahlen traf, die anscheinend aber dennoch weiterexistierten, vielleicht in den Paralleluniversa der Quantentheorie. Der Krebs hatte Changez Chamchawala buchstäblich bis auf die Knochen ausgelaugt; die Wangen waren in die Schädelhöhlen eingefallen, und des Muskelschwunds wegen lag ein Schaumstoffkissen unter seinen Gesäßbacken. Aber er hatte auch seine Fehler getilgt, all das, was dominant, tyrannisch und grausam an ihm war, so dass der verschmitzte, liebevolle und brillante Mann wieder offen dalag, für alle sichtbar. Wenn er nur sein ganzes Leben so hätte sein könne, wünschte sich Saladin (der den Klang seines vollen, unanglifizierten Namens zum ersten Mal seit zwanzig Jahren als angenehm empfand). Wie hart es war, seinen Vater zu finden, wenn man nichts mehr tun konnte, außer ihm auf Wiedersehen zu sagen.
Am Morgen seiner Rückkehr wurde Salahuddin Chamchawala von seinem Vater gebeten, ihn zu rasieren.
»Meine alten Frauen da wissen nicht, wo bei dem Philishave vorn und hinten ist.« Die Haut hing Changez in weichen, ledrigen Lappen vom Gesicht, und die Barthaare (als Salahuddin den Apparat reinigte) sahen aus wie Asche.
Salahuddin konnte sich nicht erinnern, wann er das Gesicht seines Vaters das letzte Mal auf diese Weise berührt hatte, wie er sanft die Haut spannte, während der schnurlose Rasierer darüberglitt, und sie dann streichelte, um zu prüfen, ob sie auch glatt war. Als er fertig war, ließ er seine Finger noch einen Augenblick über Changez’ Wangen laufen. »Schau dir den alten Mann
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