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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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an«, sagte N asreen zu Kasturba, als sie das Zimmer betraten, »er kann sich an seinem Sohn nicht satt sehen.« Changez Chamchawala grinste ein erschöpftes Grinsen und entblößte dabei einen Mund voller zerrütteter Zähne, die mit Speichel und Krümel gesprenkelt waren.
    Als sein Vater wieder eingeschlafen war - nachdem Kasturba und Nasreen ihm eine kleine M enge Wasser eingeflößt hatten - und mit seinen offenen, träumenden Augen, die in drei Welten zugleich sehen konnten, die tatsächliche Welt seines Arbeitszimmers, die visionäre Welt der Träume und dazu das nahende Leben nach dem Tod (wie Salahuddin es sich jedenfalls in einem phantasie vollen Moment vorstellte) auf - was? - starrte, ging der Sohn in Changez’ altes Schlafzimmer, um sich hinzulegen. Groteske Köpfe aus bemalter Terrakotta warfen finstere Blicke von der Wand auf ihn herab: ein gehörnter Teufel, ein heimtückischer Araber mit einem Falken auf der Schulter, ein glatzköpfiger Mann, der die Augen nach oben rollte und die Zunge in Panik herausstreckte, weil sich eine Fliege auf einer Augenbraue niedergelassen hatte. Unter diesen Figuren, die er sein ganzes Leben lang gekannt und gehasst hatte, da sie ihm mit der Zeit als Porträts von Changez erschienen waren, konnte er nicht schlafen, und schließlich zog er in ein anderes, neutrales Zimmer um.
    Er erwachte am frühen Abend und ging nach unten, wo die beiden alten Frauen vor Changez’ Zimmer die Details seiner medizinischen Behandlung auszuarbeiten versuchten.
    Zusätzlich zu der täglichen Melphalantablette hatte man ihm eine ganze Batterie von Mitteln verschrieben, die die bösartigen Nebenwirkungen des Krebses: Anämie, die Überbeanspruchung des Herzens und so weiter, bekämpfen sollten. Isosorbid, viermal täglich zwei Tabletten, Furosemid, dreimal täglich eine Tablette, Prednisolon, zweimal täglich sechs Tabletten… »Ich übernehme das«, sagte er zu den erleichterten Frauen. »Wenigstens etwas, das ich tun kann.«
    Agarol gegen Verstopfung, Spironolakton gegen weiß der Himmel was, und Allopurinol: plötzlich kam ihm verrückterweise eine alte Theaterkritik in Erinnerung, in der der englische Kritiker Kenneth Tynan sich die v ielsilbigen Figuren in Marlowes Tamerlan der Große »als eine Horde von Pillen und Wundermitteln, die sich gegenseitig dezimieren«, vorgestellt hatte:
    Schaffst mich hierher, kühner Barbitur?
    Bube, die Ahne dein ist tot - die alte Nembutal.
    Die Stern’ am Himmelszelt, sie weinen noch für Nembutal…
    Steht’s nicht für Tapferkeit, König zu sein, Aureomyzin und Formaldehyd,
    Steht’s nicht für Tapferkeit, König zu sein Und im Triumph zu reiten durch Amphetamin?
    Was die Erinnerung nicht alles hochspülte! Aber vielleicht war dieser pharmazeutische Tamerlan gar keine so schlechte Eloge auf den gestürzten Monarchen, der da in seinem bücherwurmstichigen Arbeitszimmer lag, in die drei Welten starrte und auf das Ende wartete. »Komm, Abba«, marschierte er munter in die Gegenwart. »Zeit, dein Leben zu retten.«
    Noch an ihrem Platz, auf einem Bord in Changez’ Studierzimmer: eine gewisse Lampe aus Kupfer und Messing, welcher die Macht der Wunscherfüllung innewohnen sollte, bislang jedoch (da nie gerieben) unerprobt. Etwas angelaufen schaute sie auf ihren sterbenden Besitzer herab - und wurde wiederum von dessen einzigem Sohn beobachtet. Der für einen Augenblick arg versucht war, sie in die Hand zu nehmen, dreimal daran zu reiben und den beturbanten Dschinn um einen Zauber zu bitten… Salahuddin jedoch ließ die Lampe stehen, wo sie war. Hier war nicht der Ort für Dschinns oder Ghuls oder Afrits; weder Gespenster noch Einbildungen waren gestattet.
    Keine Zauberformeln, nur die Ohnmacht der Pillen. »Der Medizinmann ist da«, tönte Salahuddin, klapperte mit den kleinen Flaschen und weckte seinen Vater aus dem Schlaf.
    »Medizin«, grinste Changez kindisch. »liee, bah, urgh.«
     
    In jener Nacht nötigte Salahuddin Nasreen und Kasturba, bequem in ihren Betten zu schlafen, während er auf einer Matratze auf dem Boden über Changez wachte. Nach seiner Mitternachtsdosis Isosorbid schlief der Sterbende drei Stunden und musste dann auf die Toilette. Salahuddin hob ihn auf die Beine und war erstaunt, wie leicht Changez war. Er war immer ein schwergewichtiger Mann gewesen, doch jetzt war er eine lebende Mahlzeit für die sich ausbreitenden Krebszellen… Auf der Toilette lehnte Changez jegliche Hilfe ab. »Er lässt einen nichts machen«, hatte sich

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