Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Gründen da. Ich habe es versäumt nachzufragen. Außerdem befanden sich in dem Zimmer ein riesiges Sofa – braun, hoffentlich auch in seiner Ursprungsfarbe – und ein Tisch, der komplett voll war mit Tabakbeuteln, überquellenden Aschenbechern und Gläsern. Ich nehme an, wenn man alle Reste zusammengekippt hätte, wäre höchstwahrscheinlich ein pangalaktischer Donnergurgler herausgekommen – zumindest roch es so. Den Alkohol hatte aber natürlich nur der künftige Kindesvater mit seinen Freunden getrunken. Sie selbst trinke ja seit der erneuten Schwangerschaft »so gut wie gar keinen Alkohol mehr«.
Frau Semmler erzählte, dass das Jugendamt einen Hausbesuch gemacht und erklärt habe, wenn die Wohnung »fertig« sei, könne ihre Tochter zu ihr zurückkommen. Ich bezweifelte stark, dass die Mitarbeiter des Jugendamtes das so formuliert hatten …
Frau Semmler schilderte nun umfangreich, weshalb die Wohnung fünf Monate nach dem Einzug noch immer weit davon entfernt war, bewohnbar zu sein. Da war das böse Sozialamt, das aus irgendwelchen Gründen nie geöffnet hatte, wenn sie dorthin kam, weshalb sie nicht die Gelder habe beantragen können, die ihr zustanden. Der gemeine Vermieter, der erst behauptet hatte, er werde sich um die Renovierung der Wohnung kümmern, und sich dann nicht mehr habe daran erinnern können. Die hinterhältige Chefin, die sich ausgerechnet jetzt dazu entschlossen hatte, ihrem Freund fristlos zu kündigen. Ja, und dann natürlich noch das Wetter, die Verkehrssituation, die Einführung des Euro, die ihr Geld halbiert hatte …
Als ich Frau Semmler darauf hinwies, dass der Umgang zwischen ihr und ihrer Tochter ebenso wichtig sei und ich noch immer keinen triftigen Grund dafür erkennen könne, aus dem sie seit Wochen keinen Umgangskontakt wahrgenommen hatte, erklärte sie, ihre Tochter habe dafür Verständnis, dass sie sie derzeit nicht besuchen käme. Sie habe mit ihr darüber gesprochen, dass sie sich nun bemühe, ihre Wohnung »fertig zu machen«, damit sie »ganz bald« wieder zusammen sein könnten. Serafina habe erklärt, dass dies in Ordnung sei, wenn sie doch nur bald wieder bei ihr, der Mutter, leben könne. Wie gesagt: Serafina war anderthalb Jahre alt. Sie war nicht entwicklungsverzögert, aber eben anderhalb, und sie sprach auch so.
Frau Semmler setzte erneut zu ausführlichen Schilderungen an, wie sehr sie ihre Tochter doch liebe und ihre Tochter sie und dass sie beide nur darauf warten würden, endlich wieder vereint zu sein. Das waren wirklich ihre Worte: »vereint zu sein«. Himmel …!
In Frau Semmlers Welt stellte sich die Situation folgendermaßen dar: Sie hatte sich in den ersten Lebensmonaten ihrer Tochter intensiv um das Kind gekümmert. Das war der Oma und dem Jugendamt wohl irgendwie entgangen. Und weil sich Kinder auch nach mehreren Monaten noch ganz genau an die ersten Wochen nach der Geburt erinnern können – da ist mir offenbar etwas während meines Studiums entgangen –, wusste Serafina selbstverständlich noch, was für eine »tolle Zeit« sie mit ihrer Mutter gehabt hatte. Und deshalb wartete sie nun darauf, endlich wieder bei ihr zu sein. Außerdem war es ja ohnehin so, dass Frau Semmler als Mutter die wichtigste Person für ihre Tochter sei, ungeachtet dessen, dass Serafina seit ihrer Geburt bei ihrer Oma lebte und von dieser betreut und versorgt wurde.
Auf die Überzeugung, dass man schon allein aufgrund der biologischen Verwandtschaft die wichtigste Person für sein Kind ist, treffe ich immer wieder. Ich muss gestehen, dass es mich nach wie vor jedes Mal entsetzt, wenn mir wieder jemand versucht zu erklären, dass er ja alleine durch die biologische Verwandtschaft eine hervorragende Beziehung zu seinem Kind habe. Man muss also nur die leibliche Mutter oder der leibliche Vater sein, und schon braucht man sich weder gut um sein Kind zu kümmern oder feinfühlig auf es einzugehen, um die Hauptbezugsperson zu sein. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um ein totales Unverständnis gegenüber der kindlichen Entwicklung und den Bedürfnissen eines Kindes!
Aber in diesem Fall war das alles noch gar nichts im Vergleich zu den anderen lustigen Ideen, die Frau Semmler bezüglich ihrer Tochter und deren Entwicklung und Fähigkeiten hatte. Natürlich war Serafina hochintelligent und »viel weiter als andere Kinder in dem Alter«. Das war an sich noch nichts Besonderes, denn das sind ja laut der Eltern, die ich begutachtete, fast alle
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