Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
gestärkt wieder zu Herrn Dickmann zurück.
Dieser sah nun auch deutlich besser aus.
Wir sprachen lange über die verschiedenen Möglichkeiten, die es gab, und er stellte jede Menge Fragen. Es waren ernsthafte und an den Kindern orientierte Fragen.
Herrn Dickmann ging es nicht darum zu erfahren, wie er seine Kinder nun schnellstmöglich zu sich holen könnte, sondern was er tun sollte, damit es seinen Kindern gutgehen und sie ihre Vergangenheit so effektiv wie möglich verarbeiten könnten.
Noch ein schöner Moment an diesem Tag.
Ich gestehe mir auch in meiner Sachverständigenrolle zu, mich über Menschen zu freuen, die wirklich und wahrhaftig das Beste für Kinder tun wollen. Egal ob es sich dabei um Eltern, Lehrer, Richter, Anwälte, Jugendamtsmitarbeiter oder die Blockflötenlehrerin handelt; wenn ich Derartiges erlebe, bin ich einfach nur dankbar für diesen Augenblick. Und dann spare ich nicht mit Lob, denn ich finde, diese Menschen haben jegliche Unterstützung verdient – und sei es zunächst erst einmal nur durch ein ehrliches und ausführliches Lob.
Meinen nächsten Termin hatte ich bei der Bereitschaftspflegefamilie, in der die drei Kinder untergebracht waren. Ich möchte an dieser Stelle eine tiefe Verbeugung vor allen Bereitschaftspflegefamilien machen und ihnen danken: »Normale« Pflegefamilien leisten auch Unglaubliches, keine Frage, aber Bereitschaftspflegefamilien nehmen die Kinder von heute auf morgen auf und kümmern sich für eine unbestimmte Zeit um die meist verstörten neuen Familienmitglieder. In der Regel wird das Familienleben dadurch komplett durcheinandergebracht. Die Bereitschaftspflegeeltern müssen mehrfach nachts aufstehen, viele Termine wahrnehmen (Arzt-, Logopäden-, Psychologentermine, Besuchskontakte zu den Eltern, Hilfeplangespräche beim Jugendamt) und vor allem diesen Kindern Halt, Struktur und Geborgenheit geben. Das alles mit dem Wissen, dass alle diese Kinder die Familie wieder verlassen werden. Denn das ist es, was die Bereitschaftspflegefamilien ausmacht: Sie springen ein, wenn es brennt, und helfen, so gut es geht, bis die Kinder entweder in ihre Ursprungsfamilien zurückkehren können oder beispielsweise in eine Dauerpflegefamilie vermittelt werden. Ich muss ganz ehrlich gestehen: Was diese Familien leisten, könnte ich vermutlich nicht. Und ich habe größten Respekt vor jeder einzelnen dieser Familien.
Die Bereitschaftspflegemutter, Frau Poggel, berichtete, dass sich alle drei Kinder recht schnell eingelebt hätten. Man merke ihnen aber die Vernachlässigung der letzten Jahre an. Dies zeigte sich insbesondere bei der sechsjährigen Samantha und ihrem Verhalten den kleinen Geschwistern gegenüber. Sie hatte am ersten Tag in der Pflegefamilie ganz selbstverständlich die Windeln der Zweijährigen gewechselt – und dies erstaunlich gut gemacht. Den Vierjährigen hatte sie ermahnt, sich nicht schmutzig zu machen und beim Essen vorsichtig zu sein, ihm beim Anziehen geholfen und generell stets ihre kleinen Geschwister im Blick gehabt. Als der Pflegevater mit den beiden im Badezimmer gewesen war, um sie für die Nacht fertig zu machen, und Frau Poggel die Zeit hatte nutzen wollen, um ein wenig besser mit Samantha in Kontakt zu kommen, kam sie nicht an das Mädchen heran. Samantha wurde sehr unruhig, fragte immer wieder, wo ihre Geschwister seien, und konnte sich erst dann entspannen, als die Pflegemutter mit ihr ins Badezimmer ging.
Alles in allem hatte Samantha eine ihrem Alter vollkommen unangemessene Erwachsenenrolle übernommen, die sie natürlich überforderte, die sie aber auch nicht so einfach wieder ablegen konnte und wollte.
Neben ihrem überdimensionalen Verantwortungsgefühl für ihre Geschwister machte sie sich auch Sorgen um ihre Mutter. Sie fragte immer wieder, ob es der Mama gutgehe und ob sie alles habe, was sie brauche.
Ich hatte die Vermutung, dass Samantha nicht nur ihre Geschwister, sondern zumindest phasenweise auch ihre Mutter versorgt hatte. Und das im Alter von sechs Jahren. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man es als beeindruckende Leistung bezeichnen. Aber so kann und will ich das nicht sehen. Kein Kind sollte solche Aufgaben übernehmen – und eine so große Verantwortung tragen müssen.
Frau Poggel berichtete zu den Besuchskontakten: »Wenn die Mutter da ist, beschäftiget sie sich kaum mit den Kindern. Die erwarten das aber offenbar auch nicht und fordern es nicht ein. Die Mutter trinkt dann Kaffee, schaut
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