Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
recht offen über die Missstände in der Familie berichtet (oft genug, weil es diese aufgrund seiner eigenen Geschichte gar nicht als solche empfindet) und danach Vorwürfen oder gar Bestrafungen durch seine Eltern ausgesetzt ist?
Da steckt man als Sachverständige in einem Dilemma und muss meiner Ansicht nach zunächst einmal alles tun, um auch ohne Aussagen der Kinder zu einem sinnvollen Ergebnis zu kommen.
In Samanthas Fall war die Gefahr negativer Reaktionen ihrer Mutter eher gering, da sie ja nicht mehr mit dieser zusammenlebte und sie auch nicht ohne Begleitung sah, aber ganz sicher hätte sich Samantha große Vorwürfe gemacht, wenn ihr mir gegenüber herausgerutscht wäre, dass doch nicht alles so wunderbar gewesen war, wie sie zunächst berichtet hatte. Zudem gab es genug andere Quellen, die ich nutzen konnte, um die Begutachtung durchzuführen. Da waren die Kindergärtnerinnen, der Kinderarzt, das Jugendamt und natürlich auch meine eigenen Gespräche mit der Mutter sowie die noch ausstehende Interaktionsbeobachtung zwischen ihr und den Kindern.
Also unterhielt ich mich noch ein wenig mit Samantha über eher unverfängliche Themen, wie die neue Schule und das gestern gemalte Bild, das noch auf dem Tisch lag. Sie wirkte endlich etwas kindlicher und mehr wie ein Grundschulkind als wie eine Jugendliche, die alles im Griff hat. Schön.
Als ich sie nach ihrem Vater fragte, lächelte sie: »Der ist lieb. Ein bisschen komisch manchmal, aber lieb. Und der spielt jetzt immer mit uns, wenn der uns hier besucht. Das ist schön. Warte, ich hol mal was.«
Samantha stand auf und lief aus dem Zimmer. Nach kurzer Zeit kam sie mit einem Block wieder zurück. Sie legte ihn vor mir auf den Tisch.
»Das hab ich für Papa gemalt. Wenn er das nächste Mal kommt, geb ich ihm das.«
Zu sehen war ein großes Herz, das Samantha in Rosa und Rot ausgemalt und mit Goldglitzer bestreut hatte (offenbar mit zu wenig Klebstoff, denn sie hinterließ nun überall Glitzerspuren – und ich wahrscheinlich bald auch). An den rechten oberen Rand hatte sie eine Sonne gezeichnet, die freundlich lachte. Unter alldem stand in roter Schrift und mit rosa Herzchen verziert: »Für Papa. Ihc hab dihc lib. Deine Samantha.«
Ich sah auf, und Samantha strahlte mich an.
»Da freut er sich ganz bestimmt sehr!«
Die Interaktionsbeobachtungen zwischen den Eltern und Kindern brachten keine überraschenden Erkenntnisse. Frau Dickmann, die Mutter der Kinder, trank Kaffee, versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln und verbrachte insgesamt fast genauso viel Zeit vor der Tür, um zu rauchen, wie damit, am Tisch zu sitzen und ihren Kindern mit leerem Blick beim Lego-Bauen zuzusehen. Es war traurig zu sehen, wie wenig Interesse sie an einer echten Interaktion mit ihren Kindern hatte.
Herr Dickmann war bemüht, aber auch sehr unsicher im Umgang mit seinen drei Kindern. Wahrscheinlich war er es auch zuvor schon gewesen und darauf angewiesen, dass man ihm sagte, was er zu tun hatte. Jetzt aber schien er von der Erkenntnis seines eigenen Versagens in der Vergangenheit wie paralysiert und schaute immer wieder mit fragendem Blick zu mir. Es wurde deutlich, dass er trotz seines guten Willens und Interesses an seinen Kindern (noch) nicht alleine für Samantha und ihre kleinen Geschwister würde sorgen können.
Im anschließenden Gespräch zeigte er sich einsichtig und erkundigte sich nach Möglichkeiten, etwas zum Positiven zu ändern.
»Ich könnte ja mit den Kindern zu meiner Mutter ziehen. Die könnte mir helfen. Das würde die auch machen. Also, nur … Ich würde das nicht so gern so machen, aber wenn das gut für die Kinder wäre …«
Vor meinem geistigen Auge sah ich die Zweijährige stumm zwischen unzähligen verblichenen Gartenzwergen und einer Armee von Windrädern stehen. Ich sah Frau Dickmann mit »Mischael« an der einen und dem Vierjährigen an der anderen Hand zum Einkaufen gehen. Samantha und Frau Dickmann gemeinsam auf »Mischael« einreden, dass er aufpassen und nicht wieder kleckern solle. Samantha morphte zu einer verkleinerten Ausgabe von Frau Dickmann und schnauzte ein »Der kann das alles ganz alleine, das Kleckern« in meine Richtung.
Nein.
Auch abgesehen von diesen sich aufdrängenden Bildern war für mich klar: Herr Dickmann durfte keinesfalls mit den Kindern zu seiner Mutter ziehen.
Sofern es überhaupt eine Möglichkeit geben würde, die drei Kinder bei Herrn Dickmann aufwachsen zu lassen, dann nur, wenn das
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