Die Schatten von Belfast
Noch vor fünf Monaten, zum Jahreswechsel, hatten alle gesagt, die Sache sei hoffnungslos und die politischen Verwicklungen seien nicht mehr zu kitten. Doch dann waren Berge versetzt worden. Deals wurden ausgehandelt, eine weitere Wahl kam und ging, während sich um Fegan die Schatten dichter scharten. Und häufiger als zuvor verwandelten sich diese Schatten neuerdings in Gesichter und Körper mit Armen und Beinen. Inzwischen waren sie seine ständigen Begleiter, und er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal eingeschlafen war, ohne sie im Whiskey zu ersäufen.
Seit seinen letzten Wochen im Maze Prison hatte er sie um sich, das war jetzt etwas über sieben Jahre her. Gerade hatte man ihm sein Entlassungsdatum mitgeteilt, mit einem Schreiben in einem versiegelten Umschlag. Sein Mund war trocken, als er ihn öffnete. Die Politiker draußen hatten um seine Freilassung und die Hunderter anderer Männer und Frauen gefeilscht. Leute wie ihn bezeichneten sie als politische Gefangene. Nicht als Mörder oder Diebe, als Gangster oder Erpresser oder überhaupt irgendwelche Kriminelle, sondern als Opfer widriger Umstände. Als Fegan von dem Brief aufschaute, waren seine Verfolger da und beobachteten ihn.
Er erzählte einem der Gefängnispsychologen davon. Dr. Brady erklärte ihm, das sei die Schuld. Eine Manifestation nannte er es. Fegan fragte sich, warum die Leute die Dinge eigentlich so selten beim Namen nannten.
McKenna stellte den Mercedes vor Fegans kleinem Reihenhaus auf der Calcutta Street am Straßenrand ab. Das Häuschen stand Seite an Seite mit zwei Dutzend identischer Schuhschachteln aus rotem Backstein. Fegans Begleiter warteten schon auf dem Bürgersteig.
»Kann ich noch eine Minute mit reinkommen?« Die Innenbeleuchtung des Wagens ließ McKennas Lächeln aufblitzen. Um seine Augen erschienen Lachfältchen. »Wir reden vielleicht besser drinnen, oder?«
Fegan zuckte die Achseln und stieg aus. Die Zwölfergruppe teilte sich und ließ ihn zur Haustür durch. Er schloss sie auf und trat ein. McKenna folgte ihm, und die zwölf drückten sich hinter ihm hinein. Fegan marschierte sofort zur Anrichte, wo ihn eine Flasche Jameson’s und ein Krug Wasser erwarteten. Er hielt McKenna die Flasche hin.
»Nein, danke«, sagte der. »Und du solltest es vielleicht auch besser gut sein lassen.«
Fegan ignorierte ihn und goss sich zwei Fingerbreit Whiskey mit etwas Wasser in ein Glas. Er nahm einen tiefen Schluck und deutete auf einen Sessel.
»Nein, schon in Ordnung«, wehrte McKenna ab. Seine Haare waren gut frisiert, die Haut gebräunt und glatt, nur die Narbe unter seinem linken Auge erinnerte noch an sein altes Ich.
Die zwölf Schatten zerstreuten sich in dem spärlich möblierten Raum, verschmolzen hier mit der Dunkelheit und schälten sich dort wieder aus ihr heraus. Dabei musterten sie die beiden Männer eindringlich. Der Junge wich nicht von McKennas Seite. Der Politiker trat jetzt auf eine Gitarre ohne Saiten zu, die in der Ecke stand. Er nahm sie auf und drehte sie ins Licht.
»Seit wann spielst du denn Gitarre?«, fragte er.
»Tue ich nicht. Stell sie wieder hin.«
Durch das Schallloch entzifferte McKenna das Etikett. »Martin. Sieht alt aus. Wie kommt die hier hin?«
»Hat einem Freund von mir gehört. Ich restauriere sie«, erklärte Fegan. »Stell sie wieder hin.«
»Was für ein Freund?«
»Nur jemand, den ich im Knast kennengelernt habe. Sei so gut und stell sie wieder hin.«
McKenna setzte die Gitarre zurück in die Ecke. »Es ist gut, wenn man Freunde hat, Gerry. Du solltest ihnen deine Wertschätzung zeigen. Auf sie hören.«
»Worüber wolltest du sprechen?« Fegan ließ sich in einen Sessel sinken. McKenna deutete mit einem Nicken auf den Drink in Fegans Hand. »Unter anderem darüber. Das muss aufhören, Gerry.«
Fegan hielt dem Blick des Politikers stand und leerte dabei sein Glas.
»Die Leute hier schauen zu dir auf. Du bist ein republikanischer Held. Die jungen Menschen brauchen ein Vorbild, jemanden, vor dem sie Respekt haben.«
»Respekt? Was redest du da eigentlich?« Fegan stellte das Glas auf den Couchtisch. Das kalte Kondenswasser klebte auf seiner Handfläche. Er rieb sich die Hände und verteilte die Feuchtigkeit zwischen den Fingern und Knöcheln. »Was ich getan habe, verdient keinen Respekt.«
McKenna stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Du hast deine Zeit abgesessen. Zwölf Jahre warst du ein politischer Gefangener. Zwölf Jahre hast du für die Sache
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