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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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Martyrium nun beendet war. Sie waren völlig eingeschüchtert und verstanden nicht, was die Männer ihnen zu erklären versuchten. Sie hatten Angst, dass ihnen jetzt noch größeres Unheil drohte.
    «Das ist sie!», rief Schmidlein und zeigte auf eine Frau mit auffallend heller Hautfarbe, die neben den anderen Mädchen auf dem Korridor stand. «Die Frau, die dabei war   … in besagter Nacht.»
    Sören ging langsam auf die Frau zu. Im ersten Augenblick glaubte er, sie würde weinen, aber ihre rot unterlaufenen Augen waren nicht feucht, und ein Schluchzen war auch nicht zu hören. Es sah aus, als hätte sie Puder und kräftiges Wangenrouge um ihre Augenlider geschmiert. Sie musterte ihn skeptisch, machte aber keine Anstalten, zurückzuweichen.
    «Sprichst du unsere Sprache?», fragte Sören leise. «Kannst du mich verstehen?»
    Sie nickte. Bis auf ihre Augen, die offenbar von einer Krankheit entstellt waren, war die junge Frau bildschön.
    «Woher kommst du?»
    «Vom Schiff. Wie die anderen auch.» Ihre schneidende Stimme, die irgendwie heiser klang, passte nicht zu ihrer grazilen und sanften Erscheinung. «Man hat mir die Einreise verweigert», sagte sie und deutete auf ihre Augen. «Sie sagten, ich sei krank und dürfe nicht nach Amerika.»
    «Trachoma.»
    Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe es seit meiner Kindheit, aber man glaubte mir nicht. Ich wurde zurückgewiesen.»
    «Und dann? Wie kamst du hierher?»
    «Die Männer auf dem Schiff sagten mir, ich müsse für die Rückreise aufkommen. Aber ich hatte kein Geld. Man bot mir eine Stelle an   … Ich wusste nicht, um was für eine Arbeit es sich handelte.»
    «Warum bist du nicht fortgelaufen?»
    Die Frau lächelte bitter. «Ich habe es einmal versucht.» Sie schlug den Saum ihres Rockes hoch und deutete auf zwei hässliche Narben. «Danach nicht wieder. Ich habe getan, was man von mir verlangte. Seit einem Jahr nun schon.»
    «Du meine Güte.»
    «Sie nehmen eine Reitgerte», erklärte sie. «So oft, bis man sich fügt.»
    «Was ist hier in der Silvesternacht geschehen?», fragte Sören. «Jemand hat versucht, dich von hier wegzubringen.»
    Sie schlug die Augen nieder und blickte auf den Boden. «Simon.»
    «Ja, Simon Levi.»
    «Wir sind im gleichen Dorf aufgewachsen», erklärte die Frau. «Als er mich hier erkannte   … Er dachte ja, ich sei längst in Amerika   … Ich habe ihm gesagt, man würde mich nicht ohne weiteres gehen lassen. Aber er hat mir nicht geglaubt, er hat versucht, mich über das hintere Treppenhaus aus dem Haus zu bringen. Aber man hat ihn gleich entdeckt. Was ist mit ihm geschehen?»
    Sören schüttelte den Kopf. Das also war die Erklärung. Man hatte ihr Simon Levi als Freier aufs Zimmer geschickt, jemanden, der sie kannte und natürlich sofort ahnen musste, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er hatte versucht, mit ihr zu fliehen, wahrscheinlich wollte er zur Polizei, und sie hatte aus Angst vor Repressalien und erneuten Schlägen versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, was von David und seinen Kumpanen falsch interpretiert worden war. Natürlich hatte sie geglaubt, dass die Männer in der Hofeinfahrt zu den Schurken hier im Haus gehörten   … Dann war er wieder hierher zurückgekommen, um sie zu befreien, und sehr wahrscheinlich war er bei diesem erneuten Versuch seinen Mördern direkt in die Arme gelaufen. Auf einmal passte alles zusammen. In diesem Moment vernahm Sören hinter sich Schritte.
    «Ich glaube, ich habe hier etwas für den Herrn Bischop.»
    Sören drehte sich abrupt um und verspürte ein Gefühl,als hätte man ihm einen Dolch direkt ins Herz gestochen. Er versuchte, ein Wort herauszubringen, aber es verschnürte ihm die Kehle. Zugleich schossen ihm Freudentränen in die Augen. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen, und er war hin und her gerissen zwischen Verzweiflung und Freude. So schlimm das Schicksal der Frauen hier auch sein mochte, in diesem Augenblick ging es ihm nur um seine Situation. Tilda fiel ihm wortlos in die Arme. Er hielt sie umklammert und schloss die Augen. Keiner von ihnen sagte etwas.
    Als die anderen längst in den Salon hinuntergegangen waren, um auf das Eintreffen der Polizei zu warten, standen sie immer noch eng umschlungen auf dem Flur und genossen den innigen Moment, tief berührt von dem Schmerz ihrer Trennung und dem Glück, sich wiederzuhaben.
    «Was genau ist passiert?», flüsterte Sören schließlich. «Hat man dir etwas angetan?»
    Tilda schüttelte den

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