Die Schattenfrau
Für Menschen, die in der Kindheit traumatische Erlebnisse erlitten hatten, war der einzige Weg zu einem normalen Leben, zu vergessen. Die Vergangenheit von sich fern zu halten, Abstand zu gewinnen. Erst dann konnten die Betroffenen mit anderen Menschen im Alltag normal umgehen.
Winter dachte an die einsame Frau mit ihrem Kind in der Wohnung, in der er hin und her gegangen war. Und daran, wie sehr ihn dieser Fall mitnahm. Wie lückenhaft Helenes Erinnerungen waren, und wie leicht ihn die wenigen Erinnerungsfetzen mit in den Abgrund reißen konnten.
Es gab Beispiele von Patienten, bei denen mitten in einem Gespräch die Erinnerungen abrissen. Und dann, ganz plötzlich, konnte der Patient ein anderer werden, weil sein Ich in verschiedene Identitäten aufgespalten hatte, um die Erinnerung zu bewältigen.
»Das Bewusstsein will die Person vor der Erinnerung an unerträgliche Erlebnisse schützen.« Was für ein furchtbarer Satz. Was ging im Kopf eines solchen Menschen vor? War Helene so ein Fall gewesen? Alles deutete darauf hin, aber nichts war wirklich bewiesen, ärgerte sich Winter.
Er hob den Kopf. Ein Geräusch auf dem Flur. Dann wurde es wieder still. Winter legte Don Cherry auf, um sich besser konzentrieren zu können. Die Trompete schien die Luft im Zimmer in Schwingungen zu versetzen.
Es regnete wieder, und die Tropfen prasselten rhythmisch gegen die Fensterscheibe. Winters Blick fiel auf die Kinderzeichnungen, die er direkt vor sich an die Wand gehängt hatte. Flaggen, Windmühlen, Männer mit Bart, die Autos lenkten. Regen und Sonnenschein. Auch der Himmel hat verschiedene Identitäten, fiel ihm auf.
Im Alter von dreißig Jahren verstärken sich solche Erinnerungsschübe, die dann oft völlig unvermittelt über Personen hereinbrechen können, die als Kind unerträgliche Erlebnisse verdrängt haben. Und noch ein furchtbarer Satz: »Wenn ihnen ihre Umgebung wieder bewusst wird, können sich diese Personen an einem völlig anderen Ort befinden, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen sind.«
Verschiedene Identitäten. Er las die Worte noch einmal. An einem anderen Ort.
Konnte es sein, dass es Helene genauso ergangen war?, grübelte Winter. Wenn ja, wer hatte sich so lange um ihr Kind gekümmert?
Oder hatte ihr jemand den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit geliefert? Zu einem Wissen, das besser nicht hätte berührt werden sollen?
Winter fiel ein, dass sie den genauen Zeitpunkt von Jennies Verschwinden noch gar nicht festgestellt hatten. Sie wussten nicht, wann Helene und Jennie zuletzt zusammen gesehen worden waren. War Jennie vor Helene verschwunden? War Helene auf einmal bewusst geworden, wer sie war? Vielleicht war sie die ganze Zeit über verwirrt gewesen. Konnte das sein? Diese Fragen drehten sich in Winters Kopf.
Er machte sich eine Notiz, dass er noch einmal mit Ester Bergman reden wollte. Dann stand er auf und ging zu dem Bücherregal rechts neben der Tür. Er nahm ein Buch heraus, das davon handelte, wie Menschen mit der Erinnerung an eigene Verbrechen umgingen. »In ihrem Kopf hört sie ab und zu Stimmen. Mitunter treten gewisse Stimmen sehr deutlich hervor und fordern sie zu bestimmten Handlungen auf. Aber meistens befinden sich die Stimmen als Gemurmel im Hintergrund. Sie diskutieren miteinander.«
Halders ging ins Bad. Er machte Licht und beugte sich zum Spiegel. Das Haar hatte angefangen, an den Seiten zu lang zu werden, und er beschloss, am Wochenende zum Friseur zu gehen und es abrasieren zu lassen.
Sollte er sich in die Badewanne legen? Zu viel Aufwand. Oder sollte er trinken gehen? Es war ihm zu weit. Und sich etwas zu essen zu machen, dazu hatte er auch keine Lust.
Hol's der Teufel, fluchte er. Vielleicht schaffe ich es ja wenigstens noch, aus dem Bad ins Bett zu kommen.
Oder sollte er jemanden anrufen? Aber wen? Mit wem wollte er überhaupt reden? Wer würde ihm zuhören? Höchstens Aneta, ging ihm auf.
Er blieb am Fenster stehen und blickte hinaus in die Ahornbäume. Bald wären sie kahl. Nackt. Er spürte, wie die Leere in seinem Kopf sich beim Anblick der dunklen Baumwipfel verstärkte.
Jemand zum Reden, dachte er. Das ist nicht zu viel verlangt. Ach, das brauche ich doch gar nicht. Ich habe ja schließlich meine Arbeit.
Halders schlurfte in die Küche, öffnete die Kühlschranktür und nahm eine Flasche Bier heraus. Mit der Fernbedienung in der Hand setzte er sich vor den Fernseher und überlegte, ob er ihn einschalten sollte.
»Wir können Jakobsson nicht länger
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