Die Schattenfrau
könnte ja auch sein, dass einer von euren Motorradjungs eine Mitteilung aus Schweden erhalten hat«, überlegte Winter laut.
»Oder eine Warnung«, meinte Michaela Poulsen.
»Ja. Eine Warnung. Das würde eine Menge verraten.«
»Du musst dir darüber im Klaren sein, dass wir über eine extrem nervöse Gruppierung sprechen«, sagte Michaela Poulsen. »Oder Subkultur, wie viele Romantiker sie bezeichnen. Einige dänische Kriminologen eingeschlossen.«
»Da ist noch eine andere Sache...« Winter zögerte. »Der Name Andersen. Oder M0ller. Der Tote im Fjord.«
»Kim M0ller.«
»Nennen wir ihn Kim Andersen. Ich habe gestern Abend im Hotelzimmer was über ihn gelesen, bin aber nicht schlau draus geworden. Er scheint ein widerwilliges Mitglied gewesen zu sein. Ein widerwilliger Höllenengel.«
»Wir hatten auch vorher nie was von ihm gehört.«
»Es war das erste Mal?«
»Das erste und das letzte.«
»Sprichst du jetzt vom Banküberfall?«
»Ja.«
»Seine Eltern waren nicht besonders gesprächig, soweit ich sehen konnte.«
»Aus Angst um ihr Leben«, meinte Michaela Poulsen.
»Genau genommen waren sie zu Tode erschrocken. Der Vater starb ein paar Monate danach, und es kann das Herz gewesen sein, oder auch etwas anderes.«
»Lebt die Mutter noch?«
»Ja.« Michaela Poulsen sah Winter fragend an. »Willst du sie vernehmen? Soll heißen, willst du, dass wir sie noch einmal vernehmen?«
»Ja, bitte, ich bin ja nicht dazu befugt. Aber wenn, dann am besten jetzt. Wenn es eine Verbindung... « »Nach Schweden und zu deinem Mord an Helene Andersen?
Natürlich ist das eine gute Idee. Ich habe gestern selbst daran gedacht. Und heute Morgen.«
»Wo kann man sie finden?«
»Zu Hause, nehme ich an. Sie ist gar nicht mal so alt. So um die fünfundsiebzig. Ihr Sohn war nicht einmal dreißig, als er ermordet wurde.«
»Kannst du das in die Wege leiten?«
»Wir können es ja versuchen. Aber wenn sie nicht will, müssen wir uns einen Beschluss vom Richter holen.« »Mach erst einen Versuch bei ihr zu Hause«, bat Winter.
Michaela Poulsen verließ das Zimmer und kam keine fünf Minuten später zurück. »Meldet sich niemand. Kein Anrufbeantworter.«
»Hast du die Adresse?«
»Ja, aber das ist keine gute Idee. Tauchen wir an der Tür auf, kann sie uns abweisen. Und wenn sie damals Angst hatte, hat sie die jetzt auch noch. Wir haben es über die Jahre immer mal wieder versucht.«
»Wird sie beobachtet?« »Das würde ich meinen.«
Winter war allein im Zimmer. Er starrte auf das Papier, das einer Karte glich, und das er selbst zum ersten Mal auf Beiers Tisch in Göteborg gesehen hatte. Jetzt hielt er eine Kopie dieser Karte zum Vergleich in der Hand: Es waren verschiedene Handschriften, aber die Botschaft war die Gleiche. Die Striche schlängelten sich in die gleichen Richtungen. Winter fand, es ähnelte mehr denn je einer Karte mit Wegen und vielleicht einem Haus, das oben links eingezeichnet war. Die Buchstaben und Ziffern konnten Zeitangaben oder Ähnliches bedeuten. Eine Personenzahl oder eine Geldsumme? Oder beides? Initialen von Orten oder Namen? Er hatte vor Anspannung einen roten Kopf, aber er war sicher, dass er Fortschritte machte. Er bewegte sich rückwärts, um sich in der Zeit vorwärts zu bewegen. Auf dem Schreibtisch vor ihm und in den Computerdateien fanden sich Fragmente von Antworten. Wenn er nach Hause käme, würde er sie sofort mit sämtlichen Dokumenten und allem anderen Material in Verbindung bringen und sich dabei immer weiter bis in die Gegenwart vorarbeiten.
Dann schaute er sich ein Foto von Kim Andersen an: Vom 2. Oktober 1972 und weiter bis heute war Andersens Gesicht auf dem Foto lebendig geblieben, aber auch geprägt von einer Art Last. Wer weiß, was das für eine Sorge gewesen war. Winter ersah aus den Akten, dass das Foto ein Jahr vor Andersens Tod aufgenommen worden war. Damals war er ein Angel gewesen, auf die eine oder andere Weise. Er hatte eine Harley, 750 Kubik. Andersens Augen waren dunkel, aber ein Schatten auf dem Foto machte das Gesicht etwas undeutlich. Winter brütete lange über der Fotografie. Er wusste, wonach er suchte, aber er fand, das Gesicht hatte keine direkte Ähnlichkeit mit Helene Andersens.
Er überquerte die Brücke und bog nach links auf die Vesterbrogade. Hier waren sie entlanggefahren. Brigitta am Steuer, Helene hinten, auf dem Boden. Wer hatte ihr befohlen, sich dort hinzulegen? Wie ängstlich war die Kleine gewesen?
Und ihre Mutter? Hatte sie gewusst,
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