Die Schattenfrau
rechts etwas bewegte.
Zwei Männer tauchten auf, gingen unten vorbei. Winter erkannte, dass es dieselben Männer waren, die er gerade vor dem Boulevard-Cafe beobachtet hatte. Und er war sich mehr oder weniger sicher, dass er die beiden schon früher gesehen hatte, oben beim Nytorv. Eigentlich mehrmals. In solchen Dingen war er sich sicher. Schließlich gehörte es zu seinem Beruf, aufmerksam zu sein. Und seine Beobachtungsgabe war sicher ein Grund, weshalb er diesen Beruf ausübte und versuchte, so gut wie möglich zu sein.
Die Männer blickten hoch zu seinem Fenster, als sie vorbeigingen. Sie können mich nicht sehen, vergewisserte sich Winter. Einer von ihnen starrte lange auf sein Fenster, und Winter rührte sich nicht.
Dann waren sie vorbei.
Das Dümmste wäre jetzt, hinunterzugehen und ihnen zu folgen, dachte Winter. Ich glaube nicht, dass sie ahnen, dass ich sie bemerkt habe. Oder war es nur ein Zufall? Die Routinekontrolle eines schwedischen Kommissars, der in die Stadt gekommen ist?
50
Ein Höllenlärm riss Winter aus dem Tiefschlaf. Keine Träume in dieser Nacht. Die Müdigkeit vom Vortag hatte ihr Recht geltend gemacht und ihm die ersehnte Ruhe verschafft. Er lag zwei Minuten still und bereitete sich aufs Aufstehen vor. Dann schlug er die Augen auf in seinem Hotelzimmer am John F. Kennedy Plads. Als er aus dem Bett stieg, fühlte er, dass das ganze Gebäude vibrierte von dem Lärm draußen auf dem Platz. Er war sich sicher, dass es Motorräder waren, doch näher am Fenster veränderte sich das Geräusch. Winter warf einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. Sein Wecker auf dem Nachttisch rappelte los.
Vom Fenster aus sah er den Verursacher des Bebens: Ein Tankwagen neben den Telefonzellen, von dem Schläuche in die Unterwelt hinabgezogen waren. Da geht man in ein Hotel, und dann arbeiten die Schlammsauger des Ortes in aller Herrgottsfrühe ausgerechnet vor dem Fenster, fluchte er. Aber ich muss sowieso aufstehen.
Der Himmel war schmutzig grau. Vor dem Bahnhof waren noch immer Soldaten postiert. Vielleicht sind die immer da, überlegte er.
Die Vibrationen hörten Sekunden nach dem Lärm auf. Die Besatzung des Schlammsaugers zog an Hebeln und drückte auf Knöpfe und ging vespern.
Endlich herrschte morgendliche Ruhe.
Das Park Hotel war mit rotem Teppichboden ausgelegt, auf dem das Monogramm prangte. Trotzdem war das Gewebe fadenscheinig. Die Treppen knarrten. An den Wänden im Flur vor Winters Zimmer und längs der Treppe hingen Gemälde von Eline Herts Jespersen aus den Jahren 1918 und 1919 in trüben Farben. Verlassene Kirchen, Bäume, Landschaften in Braun, das in Gelb überging und den zufälligen Betrachter an der Nichtigkeit des Lebens verzweifeln ließ. Winter betrachtete sämtliche Bilder, um in den naturalistischen Motiven wenigstens ein Lebewesen zu entdecken, aber auf Jespersens Gemälden waren nur Menschen, Gebäude und tote Natur. Die wahrscheinlich düsterste Gemäldesammlung, die Winter jemals gesehen hatte. Sie war ein schwaches Lächeln wert, und er fragte sich, warum die Hotelleitung ausgerechnet diese Werke ausgewählt hatte. Es hatte schon fast etwas Sympathisches, eine zutiefst menschliche, existenzielle Qualität, wie ein Kommentar zu der Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Sinn des Lebens ist, dass man sterben wird, hatte Winter einmal zu Angela gesagt, und sie war fast an ihm verzweifelt. Heute Abend rufe ich sie an, beschloss er, als er die zweitunterste Treppenstufe hinabstieg, die zum Abschied laut knarzte. Aber erst nehme ich ein Frühstück zu mir.
Winter wurde von einem jungen, schweigsamen Polizisten zu seinem temporären Büro im zweiten Stock geleitet. Kaum eine Minute später tauchte Michaela Poulsen bei ihm auf.
»Ich werde beschattet«, begrüßte Winter sie.
»Das wundert mich nicht«, war die erste Reaktion. Winter nahm zur Kenntnis, dass sie nicht fragte, ob er sicher sei. »Deine Ankunft war ja nicht geheim.«
»Passiert das häufiger?«
»Eigentlich nicht, aber klar, ein Kommissar aus Schweden.«
»Dann wissen die also, dass ich hier bin?«
»Jedenfalls bist du ein fremdes Gesicht. Aber ich würde ruhig davon ausgehen, dass die wissen, wer du bist.«
»Wer sind >die«
»Die dahinter stecken? Um das zu wissen, müsste ich mir die Gesichter mal ansehen.«
»Dann sollte ich dich wohl auf einen Abend in die Stadt einladen«, schlug Winter vor. »Dann kannst du diskret einen Blick über die Schulter werfen und...«
»Okay. Aber erst nach acht.«
»Es
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