Die Schattenfrau
ist er in einem anderen Zimmer, aber da sah sie ihn auf das Haus zukommen. Es war nur ein kleines Stück vom Haus zum Wald, und er kam aus dem Wald und starrte durchs Fenster direkt in ihr Gesicht. Sie rutschte vom Stuhl und zog sich ins Zimmer zurück, weil sie Angst bekam.
Sie lag auf dem Boden, als sie das nächste Mal wieder an etwas dachte. Sie fühlte sich schläfrig, und es roch anders im Zimmer. Sie schaute sich um. Auf dem Boden stand ein Teller, von dem Dampf aufstieg.
»Iss das.«
Sie rieb sich die Augen, alles war verschwommen. Sie rieb noch einmal. Jetzt sah sie, dass es kräftig aus dem Teller dampfte.
»Das ist Suppe. Du musst sie essen, solange sie warm ist«, sagte der Mann. Sie sah nur seine Schuhe und Beine.
Sie fragte: »Wo ist Mama?«
»Deine Mama kommt bald.«
»Aber wo ist Mama?«
Er antwortete nicht, und sie fragte nicht noch einmal. »Iss jetzt die Suppe. Hier ist ein Löffel.« Sie sagte: »Ich habe Durst.« »Ich hole Wasser, wenn du isst.«
Sie nahm den Löffel, tauchte ihn in die Suppe und kostete. Die Suppe war zu heiß und schmeckte nach nichts.
Sie wartete, damit die Suppe abkühlen konnte. Ihre Sachen waren zerknittert, weil sie auf dem Boden saß. Sie dachte an das Papier, das in ihrer geheimen Hosentasche steckte. Keiner hatte danach gesucht, als sie von dem anderen Haus weggefahren waren. Alles war ganz schnell gegangen. Das war gut, denn so konnten sie nicht nach dem Zettel suchen. Aber bisher hatten sie es immer eilig gehabt.
»Jetzt musst du essen.«
Sie blickte auf den Teller, aber die Suppe sah immer noch zu heiß aus. Sie machte die Augen zu.
Plötzlich tat ihr das Ohr weh, und sie machte die Augen auf und sah die Hand direkt davor. Es tat wieder weh. »Ich ziehe dich am Ohr, wenn du nicht isst.« Dann war die Hand weg, und sie tauchte den Löffel wieder in den dampfenden Teller. Sie fing an zu weinen. Er würde sie wieder schlagen und am Ohr ziehen. Mama hatte sie auch geschlagen, aber das war Mama gewesen.
10
Winter las den Obduktionsbericht genau, Seite für Seite. Pia Erikson beschrieb ein Organ nach dem andern. Immer, wenn Winter diese Berichte las, musste er sie unwillkürlich mit der bizarren Ausrüstungsliste vergleichen, wie er sie bei der militärischen Grundausbildung unterschrieben hatte.
Pia hatte ihren Bericht unterschrieben, direkt unter dem obligatorischen »Oben stehender Befund spricht dafür, dass der Tod verursacht wurde durch... «
Erwürgen. Die Frau war ermordet worden. Sie hatte sich gewehrt, wies Verletzungen von einem scharfen Gegenstand an den Armen, an der Brust und im Gesicht auf. Von einem Messer? Einem Schraubenzieher? Sie hatte keine größeren Stichspuren am Körper, aber auf einigen Fotos konnte er feine Kratzer erkennen. War die Waffe von Anfang an im Spiel gewesen, als Drohung? Oder hatte der Mörder sie sich plötzlich gegriffen, etwa von einem Brett in der Küche?
Die Spurensicherung untersuchte noch die Proben, die sie auf der Haut der Frau gesammelt hatte.
Winter überlegte, was er da gerade erfahren hatte: Die Frau war ungefähr dreißig gewesen, vielleicht ein paar Jahre jünger. Sie hatte mindestens ein Kind geboren, aber es ließ sich nicht feststellen, wann. Kindergarten? Tagesstätte? Schule? Tagesmutter? Spielgefährten, die darüber sprachen, warum er oder sie nicht mehr zum Spielen herauskam? Oder war es gar kein Kind mehr? War das Kind schon ein Teenager?
Sie hatte keine Operationsnarben am Körper, aber kleine Narben im Gesicht und um die Ohren. Und sie hatte einmal in ihrer Kindheit eine Verbrennung zweiten Grades an der Innenseite des linken Oberschenkels erlitten. Winter hatte es im grellen Licht des Obduktionssaals nicht bemerkt.
Sie war Raucherin. Die Leber wies keine Veränderungen auf. Er musste das Resultat der chemischen Analysen abwarten. Das Labor würde eventuelle Rückstände von Alkohol und Drogen finden.
Er wartete auch auf Bescheid von der Zentrale in Stockholm, von der Abteilung für vermisste Personen. Oder eigentlich von dem Kollegen, der diese Frage bearbeitete: Wenn die Frau irgendwo im Land als vermisst gemeldet war, würde Stockholm sie identifizieren.
In ihrem Bezirk war sie nicht in den Vermisstenmeldungen aufgetaucht. Auch nicht in der Verbrecherkartei. War ihre Vergangenheit makellos? Keine Festnahmen oder Verhaftungen?
Wer hatte ihr das Haar geschnitten?, dachte Winter. Wie viele Friseursalons gibt es in der Stadt?
Ihre Kleidungsstücke wiesen keine Etiketten von exklusiven
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