Die Schattenfrau
sich nicht geregt. Er schien zu warten. Winter verharrte unbewegt. Der Abstand zwischen ihm und dem Hirsch hatte sich nicht verändert. Er war kein Jäger, aber er war austauschbar. Das hier musste der bei einer Jagd übliche Abstand sein, der Abstand zwischen Jäger und Wild. Eine Situation, die Winter bekannt vorkam. Er war der Jäger... Das war seine Arbeit. Und Verbrecher waren sein Wild. Konnte ein Mörder als Wild bezeichnet werden? War nicht ehe r der Mörder der Jäger... und das Opfer das Wild?
Winter musste wieder an die Frau denken, die vor kurzem noch ganz in der Nähe gelegen hatte, die dorthin getragen worden war wie ein abgeschlachtetes Tier. Ein Opfer... aber auch ein Wild? Ihr namenloser Körper gab Aufschluss über das, was geschehen war. Doch warum war es geschehen? Winter dachte an ihren halb geöffneten Mund, die entblößten Zähne. Wie ein stummer Ruf. Ein Ruf von weither.
Der Hirsch würde nicht lange brauchen bis zu dem Platz, an dem man sie gefunden hatte. Falls er sich in den Tunnel wagte.
Winter wandte sich um, setzte sich ins Auto und ließ den Motor an. Die Geweihkrone ragte unbewegt aus dem Feld. Winter wendete und beobachtete, wie der Hirsch gleichzeitig einen Halbkreis beschrieb und dann die Richtung zum Wäldchen einschlug.
Winter fuhr zurück zum Fundort. Er parkte und betrat auf dem ausgewiesenen Pfad den abgesperrten Bereich. Das Gras im Graben war noch niedergedrückt vom Gewicht des Frauenkörpers. Winter drehte sich um und folgte seiner eigenen Spur mit dem Blick. Ein langer Weg mit einem Menschen als Last, tot oder lebendig. Ein lebloser Körper war schwer, leistete aber keinen Widerstand.
Wer immer sie getragen hatte, musste kein Riese gewesen sein. Die Angst, ertappt zu werden, konnte einem Mörder ungeahnte Kräfte verleihen, wenn er sich überhaupt etwas aus seiner Tat machte. Oder waren es mehrere gewesen, die hier im spärlichen Licht der Morgendämmerung entlanggegangen waren? Toll vor Wut, Wahnsinn... oder Adrenalin...
Oder man hatte sie über die holprigen Felder getragen, durch den Nebel. Warum nicht?
Sie würden versuchen, sich in einem angemessenen Radius durch das Gelände vorzuarbeiten, aber das war äußerst schwierig. Die Polizisten durften nicht einfach herumtrampeln. Und wurden es zu viele, musste man viel Glück haben, wollte man etwas finden.
Ein Schuss ließ Winter zusammenzucken. Noch ein Schuss zerriss die Stille des frühen Nachmittags und übertönte kurz das Rauschen der nahen Autos. Die scharfen Geräusche pflanzten sich als Echo fort, über die Birken und die Wasserflächen dahinter. Die Schießstände waren wieder in Betrieb.
Die Videobänder lagen auf seinem Schreibtisch. Die Luft im Zimmer stand still. Ringmar klopfte an die offene Tür, ehe Winters Hemd trocknen konnte. »Alles geht seinen Gang. Auch die Sonne«, sagte Ringmar. »Ich mag die Sonne.«
»Wenn du fertig bist, warten die Gentlemen von der Presse.« »Keine Ladies?«
»Es gibt keine Gerichtsreporterinnen.«
»Vielleicht wäre vieles anders, wenn es sie gäbe.« Winter fuhr sich mit den Fingern durch sein feuchtes Haar.
»Wollen wir los?«
»Hoffentlich geht's schnell. Ich will gleich danach einen Blick auf die Bänder hier werfen.« Winter erklärte Ringmar, was es mit den Videos auf sich hatte, während sie durch die Flure wanderten. Sie nahmen den Aufzug nach unten. Dort trafen sie auf die Vertreter der Presse, die aussahen, als wären sie auf dem Weg zum Strand: Shorts, dünne T-Shirts, einer trug eine Sonnenbrille. Cooler Bursche, dachte Winter und nahm vor einem Pult am hinteren Ende des Raums Platz.
»Wir wissen noch nicht, wer sie ist«, beantwortete er die erste Frage. »Und wir brauchen vielleicht Ihre Hilfe, um das in Erfahrung zu bringen.«
»Haben Sie ein Foto von ihr?« »Gewissermaßen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Hans Bülow von der GT. Er war einer der wenigen Journalisten, die Winter mit Namen kannte.
»Wir haben Aufnahmen von der Toten gemacht. Es ist bei uns nicht gerade üblich, mit solchen Bildern an die Öffentlichkeit zu gehen, wie Sie vielleicht wissen.«
»Und wenn Sie müssen?«
»Ich komme darauf zurück.«
»Und sie ist ermordet worden?«
»Das kann ich noch nicht beantworten. Vielleicht war es Selbstmord.«
»Sie hat sich also das Leben genommen, ist dann zum Delsjön gefahren und hat sich neben dem See in einen Graben gelegt?«, fragte eine Frau vom Lokalradio. Winter schaute sie an und musste an Ringmars Worte über
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