Die Schattenfrau
und sie hatte Angst gehabt, als sie mit dem Auto hineingefahren waren. Die Männer hatten ihnen zugewinkt, tiefer in den Bauch des Schiffes zu fahren. Nicht lange danach war sie wieder durch Sand gestapft, und Mama hatte bei ihr gesessen. Dann hatte sie im Wasser geplantscht, und Mama hatte am Ufer gestanden. Mama war einmal weggegangen und hatte von einem Mann am Strand etwas zu trinken gekauft. Eine lustige Flasche war das, klein, richtig niedlich. Der Sprudel darin hatte nach Zitrone geschmeckt, und Mama hatte gesagt: Das ist Zitronensprudel. Kein Zuckerwasser. Zitronensprudel. Der Mann am Strand hatte es auf eine komische Art und Weise gesagt, als sie das nächste Mal mitgegangen war, mehr davon zu kaufen.
Sie schloss die Augen, und es wurde schwarz. Als sie die Augen noch fester zudrückte, wurde es rot. So sah es also im Kopf aus. Da waren Punkte, wie Sterne. Sie reiste im Himmel, zwischen den Sternen, die in ihrem Kopf leuchteten. Aufblitzten. Es war schön, die Augen zu schließen und in den Himmel zu reisen. Hier war es hässlich, so viel konnte sie sehen; kein Tisch und keine Stühle. Sie musste auf der Matratze sitzen. Die Matratze roch schlecht. Sie wollte die Nase nicht zur Matratze drehen, deshalb hatte sie beim Schlafen versucht, sie in die Luft zu recken und geradeaus zu schauen, aber das war schwierig. Jetzt roch es gar nicht mehr so schlimm. Sie hatte es fast vergessen, und es roch nur noch, wenn sie daran dachte.
Sie raschelte ein wenig mit dem Zettel in der Hosentasche. Sie traute sich nicht, ihn herauszunehmen und anzugucken. Der Zettel, das war ihr Geheimnis. Es machte ihr Angst, aber es war gut, dass sie den Zettel hatte. Die Männer würden bestimmt böse, wenn sie wüssten, dass sie ihn hatte. Sie hatte Angst. Aber sie hatte auch ein Geheimnis. Das wussten die gar nicht. Das Geheimnis würde sie nur Mama verraten. Sie würde Mama davon erzählen, sobald Mama da war.
Vielleicht ist Mama tot. Sie ist tot, und ich werde sie nie mehr sehen. Sonst wäre Mama schon gekommen. Mama würde nie so lange wegbleiben, ohne ihr etwas zu sagen oder anzurufen. Oder einen Zettel zu schreiben, den die Männer ihr zeigen und vorlesen könnten...
Sie fuhr zusammen, als die Tür knarrend aufging. Die Tür war oben am Ende der Treppe. Die Treppe sah sie sonst nicht, weil das Licht nicht so weit reichte. Vielleicht bekomme ich neues Wasser, dachte sie und nahm den leeren Becher und stellte ihn neben die Matratze. Dorthin hatte sie vorher den anderen Becher gestellt.
Jetzt konnte sie die Beine des Mannes sehen, der die Treppe herabkam. Sie sah ihn nicht an, sondern schaute nur auf die Beine, auch als er vor ihr stand.
»Wir fahren. Du musst aufstehen.«
Sie blickte auf, konnte aber das Gesicht des Mannes nicht sehen. Die Lampe schien auf ihn. Blendete sie. Sie wollte etwas sagen, aber irgendwie ging das nicht. Es kam nur ein Krächzen wie von einer Krähe heraus.
»Steh auf.«
Sie wickelte sich aus der Wolldecke, kniete sich erst hin und stand dann auf. Das eine Bein tat ihr weh. Es war eingeschlafen. Es stach wie von Stecknadeln im ganzen Bein, fast vom Bauch bis in den Fuß.
Sie versuchte noch einmal, etwas zu sagen. »Fahren wir zu... Mama?«
»Die brauchst du nicht mitzunehmen«, befahl der Mann und nahm ihr eine der Decken ab, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte. »Los, gehen wir.«
Er zeigte zur Treppe, und sie wankte los. Er ging hinter ihr her. Sie erinnerte sich nicht, dass die Treppenstufen so hoch waren. Sie musste fast klettern wie ein Bergsteiger. Die Augen taten ihr weh vom Licht, das durch die offene Tür direkt auf sie herabfiel. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Es wurde dunkler, und sie konnte leichter gucken, denn es hatte sich jemand vor das Licht geschoben und stand in der Tür.
16
Sture Birgersson hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt taktvoll im Hintergrund gehalten, hatte wie gewohnt seinen Blick dahin gerichtet, wo eine Ebene höher die wahre Macht saß. Jetzt aber rief der Dezernatsleiter seinen Stellvertreter zu sich.
Winter wusste, dass Sture Birgersson extra seinen Urlaub verschoben hatte, seine Reise ins Unbekannte: Gewöhnlich verschwand er einfach spurlos, niemand hatte eine Ahnung davon, wohin. Viele hätten es gern herausbekommen, aber Birgersson verlor kein Wort darüber. Winter hatte zwar eine Telefonnummer für Notfälle, aber es wäre ihm niemals eingefallen, sich ihrer zu bedienen.
Der Chef rauchte am offenen Fenster, der Tabakqualm glitt hinaus
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