Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
verbunden. Längst war er ein einsamer Krieger geworden, den der Tod in zahllosen Schlachten immer wieder verschmäht hatte, ein Relikt, ein Überlebender. Nun fühlte auch er sich alt und allein.
Die frische Morgenbrise weckte ihn aus seinen Gedanken. Er lächelte, ein wenig bitter. Schon früher hatte er immer mal wieder geglaubt, jetzt die Endstation erreicht zu haben, und jedes Mal war wieder etwas Neues in sein Leben getreten. Die Liebesbeziehung zu Soana, vor nunmehr fast schon vierzig Jahren, zum Beispiel. Vielleicht würde auch jetzt wieder etwas geschehen, was alles auf einen Schlag änderte. Er steckte den Brief unter sein Wams zurück. Anders als sonst hatte er nicht seine Kriegsmontur angelegt. Für die bevorstehende Reise wäre sie unpassend gewesen. Man würde ihn verfolgen, und er musste darauf bedacht sein, nicht aufzufallen. Daher hatte er sich auch wie ein Kaufmann gekleidet, denn viele Gnomen aus dem Land der Felsen verdingten sich als Kaufleute. Um ganz sicherzugehen, trug er auch noch einen weiten Umhang, der seinen gedrungenen, muskulösen Leib verbarg, mit einer großen Kapuze, die notfalls auch seine markanten Gesichtszüge verdecken konnte.
Nun warf er sich den Reisesack über die Schulter, saß auf und ritt los, um das zu suchen, was von Nihal in der Aufgetauchten Welt übrig war: ihr Sohn Tarik. Es ist komisch, dass er uns beiden so ähnlich sieht. . . Wie gern würde ich ihn Dir zeigen, er würde Dir gefallen. Wie sein Vater hat er rotes Haar, nur eine Spur dunkler, doch seine Augen sind violett, so wie meine. Das Schönste jedoch sind seine Ohren: nicht genauso wie bei einem Menschen, aber auch nicht so spitz wie bei den Halbelfen, eher so ein Mittelding. Ach, sie sind so süß, ich könnte sie den ganzen Tag küssen. Es ist ein Wunder, Ido, ein Wunder. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie fantastisch es ist. So ein Kind zu haben, ist eine Erfahrung, die ich auch Dir wünschen würde.
So hatte Nihal ihm die Geburt ihres Kindes mitgeteilt, ein Junge sei es, und es gehe ihm gut. In den Briefen der nächsten fünf Jahre hieß es dann immer wieder, wie lebhaft, fröhlich, aufgeweckt dieser Junge sei. Früher oder später würde er ihn einmal kennenlernen, hatte Ido gehofft, denn im Grund seines Herzens war er überzeugt, dass Nihal und Sennar eines Tages zurückkehren würden, weil ihnen die Aufgetauchte Welt doch mehr am Herzen lag, als ihnen be wusst war. Vielleicht wäre es so gekommen. Aber dann war Nihal gestorben, und Sennar hatte sich vollkommen zurückgezogen.
Als der Junge dann Hals über Kopf von zu Hause geflohen war, hatte Ido sogleich überlegt, sich auf die Suche nach ihm zu machen. Wäre es ihm gelungen, den Jungen zu finden, hätte er ihm ein paar hinter die Ohren gegeben und ihm klargemacht, dass dies kein Benehmen war, dass er nach Hause zurückkehren und seinem Vater zur Seite stehen solle. Zu jener Zeit jedoch war die Lage der Aufgetauchten Welt besonders dramatisch gewesen. Unterstützt von Aires, der Königin des Landes des Feuers, hatte Ido vor dem Rat Anklage gegen Dohor erhoben, der damals begann, das Land der Tage von den Fammin zu säubern. Von jenen kriegerischen Geschöpfen also, die der Tyrann durch seine teuflische Magie erschaffen hatte und die nach dessen Sturz versuchten, sich dort in diesem Land eine eigene Zukunft aufzubauen. Mithilfe verschiedenster Verbindungen und Ränkespiele war es Dohor gelungen, die Anklage vor dem Rat umzukehren und den Gnomen sowie die Königin Aires des Verrats anzuklagen. Ido verlor seine Stellung als Oberster General der Akademie der Drachenritter und wurde unehrenhaft aus dem Orden verstoßen. Und so beschloss er, Dohors Gegner um sich zu sammeln und im Land des Feuers eine Widerstandbewegung gegen den König zu organisieren und anzuführen. Nein, zu jener Zeit hatte er wirklich zu viel anderes im Sinn gehabt, um sich auf die Suche nach Tarik machen zu können.
Während er die weite Ebene ostwärts in Richtung des Landes der Tage durchritt, überlegte Ido, dass Tarik mittlerweile ungefähr fünfunddreißig Jahre alt sein musste. Er fluchte vor sich hin. Während er selbst immer noch gegen Dohor kämpfte, hatte Tarik wahrscheinlich längst eine Familie gegründet, hatte eine Arbeit gefunden und war zum Mann geworden. Ido überlegte einige Augenblicke. Egal, auch jetzt noch hatte der Junge ein paar hinter die Ohren verdient, und das konnte er besorgen - für Ido einer der wenigen Vorteile, wenn man als alt und
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