Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
schon so lange aufgegeben hatte, dass sie es kaum noch kannte: Hoffnung.
Lonerin blieb stehen und holte einmal mehr die Karte hervor. Sie hockte sich neben ihn und blickte in sein Gesicht mit den neugierigen, entschlossenen Zügen, die dort nie weichen wollten, der Gesichtsausdruck eines Menschen, der ein klares Ziel verfolgte. Mit einem Stift fuhr er jetzt die gesamte Strecke nach, die sie bis zu diesem Zeitpunkt zurückgelegt hatten.
Stolz betrachtete er den feinen Strich, den er gezeichnet hatte. »Ein ganz ordentliches Stück, findest du nicht?«
Dubhe nickte. Es stimmte, und doch hatte sie das Gefühl, nicht so recht von der Stelle zu kommen, so als liege das längste Stück noch vor ihnen. Nun galt es, den Einstieg in die Schluchten zu finden, und sie hatte nicht die geringste Lust, wieder in die Tiefen der Erde hinabzusteigen. Die Katakomben der Gilde hatten ihr gereicht. Und so schwand die Zufriedenheit, die sie gerade noch gespürt hatte, langsam wieder dahin, und ihre Miene wurde ernst.
Unter einer stechenden Sonne wanderten sie weiter, bis sie gegen Mittag in offenes Gelände kamen. Kein Baum war mehr zu sehen, und eine leichte Brise wehte. Seit dem Beginn ihrer Wanderung war dies nun das erste Mal, dass ihr Blick weiter als nur ein paar Ellen schweifen konnte. Sie standen auf einer Wiese mit sattgrünem Gras und herrlich bunten Blumen.
Verzaubert von dieser Schönheit, lief Dubhe einige zaghafte Schritte über die Wiese und ließ sich dann im Gras nieder, während Lonerin sich forschend umblickte.
»Dort drüben kommen wir wohl nicht weiter«, erklärte er, indem er vage nach rechts deutete, »da müsste ein steiler Abbruch sein, ich denke, wir werden uns einen anderen Weg suchen müssen ...«
Doch Dubhe hörte ihm gar nicht zu. Der Duft der Blumen ließ sie an Selva denken, das Dorf, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und diese Erinnerung öffnete das Tor zu weiteren Gedanken. Es hätte auch alles anders kommen, ihr Leben anders verlaufen können. Und zum ersten Mal stellte sie nun infrage, dass sie ihren Lebensweg einem grausamen, unausweichlichen Schicksal verdankte. Vielleicht war es Lonerins Einfluss, der ihre Anschauungen ins Wanken brachte, sein Elan, sein wacher, lebendiger Geist. Abgelenkt durch diese Überlegungen, war sie einen Moment lang nicht auf der Hut. Und als sie den eisernen Griff einer Hand auf ihrem Mund spürte, war es bereits zu spät. Sie versuchte zu schreien, doch durch die Finger, die ihr Gesicht umschlossen, drang nur ein erstickter Laut, der zu schwach war, um Lonerin zu erreichen.
Da verdrehte sie, so wie Sherva es ihr beigebracht hatte, mit aller Kraft ihren Hals, bis es nicht mehr ging, und schaffte es auf diese Weise, den Mund einen Augenblick lang freizubekommen.
»Lonerin!«
Sie sah, wie er herumfuhr, dann das Aufblitzen eines Wurfmessers unter der heißen Sonne, und er sackte zusammen. »Nein!«
Die Bestie in ihrem Innern begann zu brüllen, und als sie die Situation nun voll erfasste, gefror ihr das Blut in den Adern: Die Assassinen der Gilde hatten sie aufgespürt, und Rekla führte sie an. Wenn sie die Wächterin der Gifte nicht besiegte, war alles verloren. Irgendwie gelang es ihr, sich dem Griff zu entwinden, doch als sie gerade zu Lonerin laufen wollte, traf sie ein Tritt mitten im Gesicht. Wie betäubt vom Schmerz, stürzte sie zu Boden, und einige Augenblicke war um sie herum alles schwarz.
Als sie endlich aufblicken konnte, thronte Rekla über ihr. Es war alles genauso wie damals in der Gilde, wenn sie sich zur Wehr gesetzt hatte und ihr die Wächterin der Gifte das Gegenmittel verweigerte, sodass sie sich, von den Zuckungen der Bestie geschüttelt, vor Rekla am Boden wand. Sie hasste diese Frau jetzt noch mehr als jemals zuvor. Ihre Locken, die blassen Sommersprossen, das mädchenhafte Lächeln -alles an ihr war einfach unerträglich. Sie versuchte, an ihren Dolch zu kommen, doch Rekla presste ihr den Stiefel auf die Brust und nahm ihr den Atem.
»Schön brav bleiben!«
Dubhe unterdrückte einen Schmerzensschrei. Sie wollte nicht in Panik geraten, Rekla diesen Triumph nicht gönnen.
Verzweifelt bäumte sie sich auf, versuchte, Reklas Bein zu packen, doch die Wächterin der Gifte beugte sich herab und stach Dubhe kurzerhand den Dolch in die Schulter. Ein entsetzlicher Schmerz durchfuhr sie.
»Du willst dich also vergnügen, Dubhe. Dann pass mal auf. Ich werde dir ein Schauspiel bieten.«
Im Nu hatte sie Dubhe am Oberteil gepackt, zog sie
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