Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
Situation, die ihn in Anspannung versetzte. Als abends an einem kristallklaren Himmel die Sonne unterging und damit einer der ersten herrlichen Sommertage endete, erreichte er den Bannwald. Am Waldrand, dort wo die Steppe, in der auch er einmal vor langer, langer Zeit gekämpft hatte, in die ersten Baumreihen überging, stieg er vom Pferd und lief zu Fuß weiter. Nun wurde seine Aufgabe noch schwieriger, galt es doch, bei den unzähligen Spuren, die auch hier wie in jedem Wald zu sehen waren, stets den richtigen zu folgen. Und das war sogar für Ido kein Kinderspiel. Er musste konzentriert bleiben, durfte die Gedanken nicht abschweifen lassen, etwa zu Tarik oder dessen tot im eigenen Blut liegender Frau. Nichts durfte ihn ablenken, auch nicht die Kriegserinnerungen, die er mit diesem Wald verband.
Es war bereits stockdunkel, als er auf einer Lichtung die Spuren eines Lagers entdeckte, niedergedrücktes Gras und die unter Erde verborgene Asche eines Lagerfeuers, während an einem nahen Baum ein Stückchen Seil hängen geblieben war. Mit Sicherheit hatten die Assassinen hier gelagert und danach zwar die Spuren beseitigt, jedoch nicht eben sorgfältig, ein Zeichen, dass sie sich noch nicht verfolgt fühlten.
Er richtete sich auf und blickte sich weiter um. Jetzt erkannte er die Lichtung wieder, denn Sennar hatte sie in seinem Buch über die Abenteuer an Nihals Seite beschrieben. Er fand den Vater des Waldes, fuhr sanft über dessen dunkle rissige Rinde. Dabei war er eigentlich nie ein großer Naturliebhaber gewesen. Für ihn waren Wälder Geheimnisse, die er nicht zu ergründen vermochte. Gewiss liebte er bestimmte Landschaften, doch die Natur selbst schien eine Sprache zu sprechen, die er nicht verstand. Nun aber spürte er die Ur-kraft des Vaters des Waldes und stellte sich vor, wie Nihal den achten Elfenstein aus der Vertiefung in seinem Stamm hervorgeholt hatte, jenen letzten Stein also, der die Kräfte des Talismans freisetzen und die Niederlage des Tyrannen besiegeln sollte. Ob sie sich damals ebenso so verloren vorgekommen war wie er jetzt in diesem Moment? Eine tragische Ironie steckte in dem ganzen Geschehen. Es war eben jener Baum, vor dem Nihal vierzig Jahre zuvor den entscheidenden Ritus zur Rettung der Aufgetauchten Welt vollzogen hatte, an den man ihren Enkelsohn San jetzt gefesselt hatte. Ido löste seine Hände von dem Stamm und machte sich wieder auf den Weg.
Hier im Wald kam er längst nicht mehr so rasch vorwärts, wie er es sich gewünscht hätte. Sein Pferd kämpfte sich über Stock und Stein, die Spuren waren kaum noch zu erkennen, und auch er selbst begann die Erschöpfung zu spüren. Schließlich war er nicht mehr der Jüngste, sein Körper verlangte nach Erholung, und einen Augenblick lang dachte er daran, wie schön es wäre, die Zeit zurückdrehen und in den Adern noch einmal den frischen Lebenssaft der Jugend spüren zu können. Seine Laune verschlechterte sich noch weiter, denn er hasste es, wenn er wehmütig wurde, und all die Erinnerungen, die mit diesem Wald verbunden waren, trugen noch das ihre dazu bei.
Am zweiten Tag bewegte er sich entlang der Grenze zu seiner Heimat, dem Land der Felsen. Lebhafte Erinnerungen an seine Kindheit wurden wach, und einen Moment lang war er versucht, einen kurzen Abstecher dorthin zu machen. Doch als er an San dachte, ließ ihn die aufkommende Wut rasch wieder zur Vernunft kommen. Die Assassinen hatten fast einen Tag Vorsprung, das notwendige Verweilen an Tariks Sterbelager hatte Zeit gekostet, die nicht aufzuholen schien. Aber er durfte nicht aufgeben. Später einmal würde sich vielleicht die Gelegenheit ergeben, seine alte Heimat zu besuchen und in Erinnerungen zu schwelgen. Ein andermal, jetzt nicht.
Schließlich wurde seine Ausdauer belohnt. In der Wüste an der Grenze zum Großen Land fand er frische Spuren. Der Abstand hatte sich verringert. Ido spürte, wie die Freude da rüber seine Glieder verjüngte, und ohne auch nur einen Augenblick zu zaudern, setzte er ihnen ins Große Land hinein nach. Sie konnten nicht mehr weit sein. Sherva war unruhig. Er mochte es nicht, sich im Großen Land aufzuhalten, das Nymphenblut in seinen Adern ließ ihn den Klagegesang der toten Bäume wahrnehmen. Zudem waren sie hier ganz ohne Deckung. Einen anderen Weg gab es jedoch nicht, und es war auch nichts Spezielles, das er fürchtete. Er spürte es nur: Es war ihnen jemand auf den Fersen. Sie wurden verfolgt. Wahrscheinlich von dem Gnomen.
»Wer tritt ihm
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