Die Schattenmatrix - 20
flaue Gefühl im Magen zu ignorieren; er hatte einen sauren Geschmack im Mund. Sie hatte völlig Recht - er wusste es seit Wochen. Aber er hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte sich ständig einzureden versucht,
dass er Vincent irgendwie falsch einschätzte. Und mit großem Bedauern erkannte Mikhail, dass er es bisher vermieden hatte, diesen Kindern wirklich Beachtung zu schenken, dass er sich nur deshalb von den Problemen bei der Instandsetzung des heruntergekommenen Hauses so vollkommen in Anspruch nehmen ließ, weil er sich der Herausforderung nicht gewachsen fühlte, diese fremden Wesen zu begreifen. Er wusste, dass Vincent grausam war und dass sich die jüngeren Kinder vor ihm fürchteten. Er hatte dieser Tatsache nur nicht ins Auge sehen wollen. Warum hatte Regis ihm diese Aufgabe übertragen - er war ihr einfach nicht gewachsen.
»Das wird aufhören!« Mikhail glaubte selbst kaum, was er da sagte, aber er wollte die Kinder beruhigen. Na klar - ich werde Vincent Tag und Nacht keine Sekunde aus den Augen lassen! Was für ein Witz!
Val schüttelte den Kopf, dass die schwarzen Locken nur so um ihr katzenartiges Gesicht wirbelten. »Du kannst Vincent nicht aufhalten. Niemand kann es.«
»Wieso nicht?«
»Weil er macht, dass du Kopfweh oder Grippe bekommst, wenn er dich nicht mit den Händen zu fassen kriegt.«
»Ich verstehe.« Mikhail nahm sein Kelchglas zur Hand und trank einen Schluck von dem süßen und dennoch trockenen Apfelwein aus der Gegend. Er begriff zum ersten Mal seit seiner Ankunft, dass man Vincent hatte verwildern lassen, dass er sich vielleicht anders verhalten würde, wenn man ihn bei den ersten Anzeichen seines Laran zur Ausbildung in einen Turm geschickt hätte. Er musste endlich die Tests durchführen, derentwegen er ursprünglich gekommen war, und zwar bald.
Das alles war allein Priscillas Schuld, weil sie sich geweigert hatte, ihre Kinder ausbilden zu lassen; aber für Schuldzuweisungen war es nun zu spät. Die Kinder hätten problemlos
nach Dalereuth gehen können, dem nächstgelegenen Turm, der an dem gleichnamigen Meer lag, falls Priscilla sie nicht nach Arilinn schicken wollte. Wenn überhaupt jemand Schuld hatte, dann Regis selbst, weil er die Dinge so viele Jahre lang treiben ließ. Das ganze Problem ließ sich auf Laran zurückführen! Vor seiner Begegnung mit Marguerida Alton hatte Mikhail sich nie ernsthaft damit befasst, was für ein zweischneidiges Schwert die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, sein konnte. Er war in einer telepathischen Gemeinschaft aufgewachsen, wo diese Eigenschaft erwartet wurde und auch erwünscht war. Und da er sich - wie seine Geliebte ihn oft genug erinnerte -immer nur innerhalb der darkovanischen Kultur bewegte, war ihm nie aufgefallen, dass diese Fähigkeit auch Nachteile hatte.
Laran gehörte so sehr zur Kultur Darkovers, dass er nie darüber nachgedacht hatte, bis Marguerida ihn ziemlich verärgert daraufhingewiesen hatte, dass es sich auf alle Lebensbereiche auswirkte. Ihrer Meinung nach maß man dieser Fähigkeit viel zu viel Wert bei, bis hin zur Besessenheit. Und bevor seine Schwester Ariel ihren gewaltigen Schmerz und Selbsthass wegen ihres fehlenden Laran bloßgelegt hatte, war ihm nicht bewusst gewesen, wie sehr diejenigen litten, die diese Gabe nicht besaßen.
Während seiner Zeit in Arilinn, als Margaret ihr Studium aufnahm, hatte sich Mikhail gezwungen gesehen, viele Dinge kritisch zu hinterfragen, die er bisher immer für selbstverständlich angesehen hatte. Die wissenschaftliche Denkweise seiner Geliebten war ein Phänomen, dem er vorher nie begegnet war, weder bei Männern noch bei Frauen. Sie konnte jeden beliebigen Standpunkt klar und treffend vertreten - und schien sogar Spaß an den Disputen zu haben. Das nannte man Sophisterei, wie sie ihn belehrte, und in akademischen Kreisen
runzelte man häufig die Stirn darüber. Doch während mehrerer Nachmittagsspaziergänge und bei ihren wohltuenden Ausritten über die Felder und Wiesen rund um den Turm, hatte sie unbeschwert die darkovanische Kultur in ihre Einzelteile zerlegt. Das schien sie regelrecht zu beleben, denn ihre Augen funkelten dabei immer wie gelbe Achate, und er wusste, dass sie das Akademikerdasein an der Universität mehr vermisste, als sie zugab.
Manchmal vertrat sie den Standpunkt, dass Laran eine gute Sache sei, dann wieder behauptete sie, es sei verwerflich. Meist verwies sie auf andere Kulturen, über die sie Bescheid wusste, in denen man im Hinblick auf Kraft, Intelligenz
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