Die Schattenmatrix - 20
Gleichgewicht der Macht in eine so bedenkliche Schieflage geriete. »Wann bringt Ihr mir endlich bei, wie man mit einem Schwert umgeht?«, schrie Vincent in Mikhails Grübeleien hinein. Sein Gesicht war gerötet, wie so oft, wenn er seinen Willen nicht bekam, und die Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Mikhail sah, wie die Mädchen zusammenzuckten, obwohl sie Vincents Spektakel inzwischen gewöhnt waren.
»Sobald du gelernt hast, deinen Tonfall zu mäßigen, wenn du im Haus bist«, fuhr ihn Mikhail an.
Vincent öffnete den Mund, doch dann überlegte er es sich offenbar anders. Er funkelte Mikhail nur zornig an und zwickte Val so fest in den Arm, dass sie aufschrie.
Mikhail war aufgesprungen, bevor er recht wusste, was er tat. Er stürmte um den Tisch herum, packte Vincent am Kragen und zerrte ihn vom Stuhl. Der Bursche war beinahe so groß wie Mikhail selbst und wehrte sich heftig. Aber er war so überrascht, dass er nur hilflos mit den Armen umherfuchtelte und Mikhail einen kraftlosen Schlag auf die Schulter versetzte.
»Geh sofort auf dein Zimmer!«
»Nein! Ihr habt kein Recht …«
Mikhail wartete gar nicht erst ab, was Vincent noch sagen wollte. Er packte ihn an der Schulter und am Gürtel und schleifte ihn zur Tür. Dann stieß er den Jungen aus dem Speisesaal und schloss die Tür hinter ihm. Er hörte Vincent draußen wutentbrannt und unzusammenhängend brüllen. »Wie könnt Ihr es wagen! So behandelt man keinen König!«
Mikhail wartete, ob Vincent versuchen würde, wieder hereinzukommen, aber nachdem er eine Minute lang getobt hatte, stürmte er mit den schweren Schritten eines wütenden Jugendlichen davon. Mikhail drehte sich um und bemerkte, dass die übrigen Kinder und die beiden Gardisten ihn mit aufrichtigem Erstaunen ansahen. Emun zitterte beinahe, seine blassen Wangen waren gänzlich farblos, und er hatte die Augen weit aufgerissen. »Ich mag es nicht, wenn meine Mahlzeiten durch Streit gestört werden«, sagte Mikhail. »Das bekommt meiner Verdauung nicht.« Das allein war es natürlich nicht. Mikhail hatte fürchterliche Erinnerungen an die Abendessen in Armida, bei denen seine Eltern sich entweder anschrien oder in einem kalten, starren Schweigen dasaßen, das so schlimm war, dass es selbst einem stets hungrigen Heranwachsenden fast den Appetit verdarb. Als er dann auf Burg Ardais wohnte, hatte er zu seiner Erleichterung festgestellt, dass Lady Marilla Aillard, Dyan Ardais’ Mutter, keine Diskussionen bei Tisch erlaubte. Das hatte zwar zu vielen langweiligen Abenden geführt, aber die waren Mikhail lieber als Auseinandersetzungen. »Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Miralys leise.
Mikhail kehrte auf seinen Platz zurück und sah sie neugierig an. Die Mädchen verhielten sich die meiste Zeit sehr ruhig, als wollten sie sich vor irgendetwas verstecken. Val schien die Lebhaftere von beiden zu sein, denn sie hatte immerzu ein
fröhliches Funkeln in den Augen; Miralys dagegen war die Selbstbewusstere. Doch ihr Tonfall hatte sich gerade alles andere als selbstbewusst angehört. Sie klang verängstigt, und Mikhail merkte, dass sie sich mehr vor ihrem Bruder fürchtete, als ihm bewusst gewesen war. Doch warum? Es steckte mehr dahinter, als Vincents Sticheleien, aber Mikhail wusste beim besten Willen nicht, was. Er dachte an Dom Gabriel und Lady Javanne, dann an Regis und Lady Linnea, die ihm in vielerlei Hinsicht mehr wie seine Eltern vorkamen als seine leiblichen. Sie waren alle streng gewesen, und Dom Gabriel brüllte gerne, wenn man sich ihm widersetzte. Aber Mikhail hatte sich vor keinem von ihnen je wirklich gefürchtet, und soweit er es beurteilen konnte, hatten weder seine Brüder noch seine Schwestern ernsthaft Angst vor Dom Gabriel. Niemand fand die häufigen Wutausbrüche seines Vaters lustig, aber wenn sie plötzlich ausgeblieben wären, hätte Mikhail ihn für krank gehalten. »Warum denn nicht, Mira?«
Sie antwortete nicht, sondern schürzte nur die Lippen und senkte den Kopf über ihren Teller. Val schaute auf dem Tisch herum, zuckte mit den Achseln und sagte dann: »Er wird es an uns auslassen. Das tut er immer.«
Tiefes Unbehagen lief wie ein kalter Schauer über Mikhails Nacken. »Wie meinst du das?«
Valenta sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Mein Bruder tut gern anderen weh.« Sie sagte es mit kaltem, nüchternem Tonfall, als würde sie eine allseits bekannte Tatsache wiedergeben und verstünde nicht ganz, warum er überhaupt fragte.
Mikhail versuchte das
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