Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
Gästen nichts zu sehen. Die Nachtschwärmer wankten gerade in ihre Betten, die Frühaufsteher drehten sich noch einmal um. Cale durchquerte die Lobby mit langsamen Schritten. Der Portier, der hinter dem Empfangstresen stand, nickte ihm zu. Cale kannte ihn – er hatte bereits mehrmals Kundinnen besucht, die im Wark abgestiegen waren, und mittlerweile kannte Cale fast jeden Mitarbeiter der Nachtschicht, und die kannten ihn. Natürlich waren sie diskret genug, diesen Fakt niemals zu erwähnen, aber das wissende Lächeln des Portiers hatte etwas Anzügliches an sich. Cale wandte den Blick ab und ging zu den Aufzügen. In seinem Innern knurrte Caes; Cale wusste, was den Dämon so reagieren ließ – unter den Düften, den Blumen, den Putzmitteln, dem billigen Aftershave des Portiers lag ein Hauch von Blut. Getrocknetes Blut.
Cale wandte sich von den Aufzügen ab zur Treppe. Es war einfacher, dem Duft nachzugehen, als blind alle Stockwerke abzufahren. Seiner Nase folgend, lief er die Treppen hinauf, bis er im dritten Stock stehen blieb. Er trat in den Gang hinter der Tür und atmete wieder tief ein. Vor der Tür mit der Nummer 325 war der Geruch am stärksten, aber Cale hätte auch so gewusst, dass er hier richtig war. Die Tür war mit Papiersiegeln abgeklebt, und davor saß eine junge Frau in der Uniform der Edinburgher Polizisten. Sie hatte die Augen halb geschlossen, aber als Cale vor sie hintrat, war sie sofort hellwach.
Sie war klein und sehr schlank. Unter der Schirmmütze blitzten blaue Augen auf, und eine Strähne blonden Haares lugte darunter hervor. Ihr Gesicht glänzte ein wenig, und der matte Lippenstift war verschmiert. Cale biss die Zähne zusammen, als Caes’ Aufregung wie ein Stromstoß durch seinen Körper fuhr. Ja! , frohlockte dieser. Cale schauderte, und es lag nicht an der Gier, die in diesem einen Wort mitschwang. Es war das Frohlocken darin. Der Dämon hatte in dieser Nacht noch keine Frau gehabt, und die 24 Stunden waren fast erreicht. Er brauchte die weibliche Lust, aber Cale konnte Caes jetzt nicht nachgeben.
Mühsam unterdrückte er Caes’ Begehren und hörte den Dämon lautlos in seinem Innern brüllen.
Die Polizistin war inzwischen aufgestanden. »Bitte gehen Sie weiter in Ihr Zimmer, Sir«, sagte sie streng. »Hier haben Sie nichts zu suchen.«
Cale rang mit sich selbst. Er brauchte Caes’ Fähigkeiten, aber ohne sich von ihm dabei übermannen zu lassen. »Ich bin wegen Ihnen hier«, sagte Cale und trat einen Schritt näher; die Polizistin kniff leicht die Augen zusammen, und ihre Hand bewegte sich näher an ihre Hüfte, an der der Schlagstock hing. »Bleiben Sie bitte stehen, Sir!«, warnte sie ihn mit scharfer Stimme.
Cale konnte ihre Unsicherheit förmlich riechen. Wenn er nicht endlich handelte, würde sie noch ihre Kollegen rufen, und er würde nicht mehr ins Zimmer kommen!
›Caes!‹, flehte er stumm. ›Mach endlich!‹
Der Dämon knurrte, aber endlich spürte Cale, wie Magie seine Finger prickeln ließ. Bevor die Polizistin schreien oder weglaufen konnte, hatte Cale seine Hand auf ihre Wange gelegt. Augenblicklich wurde die Frau ruhiger und entspannte sich. Ihre blauen Augen wurden weit und die Pupillen groß. Mühelos zog Cale sie näher. Sein Mund näherte sich ihrem, und die Polizistin öffnete ihre Lippen, um ihm entgegenzukommen. › Tu es‹ , gierte Caes in seinem Innern. › Gib sie mir!‹
» Nein«, erwiderte Cale mühsam. › Du wirst dafür leiden – mehr als ich‹ , warnte der Dämon ihn mit tiefem Knurren, und Cale spürte zu deutlich, wie sehr Caes sich danach sehnte, diese Frau zu kosten, zu berühren und jeden einzelnen dieser Funken zu trinken wie teuren alten Wein.
»Ich weiß«, murmelte Cale an den Lippen der Frau. »Verdammt, ich weiß es nur zu gut ...« Er schluckte, denn die Polizistin wollte nicht weiter auf seinen Kuss warten. Sie schmiegte sich an ihn, rieb ihren Körper an seinem und umfing ihn mit ihren Armen. Die Wärme fühlte sich gut an, tröstlich, aber Cale musste sich davon befreien. Er strich die Schirmmütze zur Seite und hob das Kinn der Frau an. »Weißt du, was mich wirklich glücklich machen würde?«, fragte er mit dieser weichen Stimme, die er für solche Momente bereithielt.
Die Frau sah ihn an und schüttelte den Kopf, aber in ihren Augen las er eindeutig, dass sie bereit wäre, auch für ihn aus diesem Fenster zu springen, wenn er es nur von ihr verlangte. »Wenn du einfach für eine Weile den Gang entlanggehen
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