Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
genau darauf, dass niemand sie dabei sah. Als Kind hatte sie es einmal getan, um den anderen zu beweisen, dass sie nicht log, aber es hatte nichts gebracht. Erst hatten sie sie nur für eine Lügnerin gehalten – als sie gesehen hatten, wie Zoe die Augen verdrehte und einfach umfiel, war sie von der Lügnerin zum Freak geworden. Zoe hatte es danach nie wieder öffentlich getan.
Also: Woher konnte ein fremder Mann davon wissen? Und was wollte er von ihr? Dumas hatte davon gesprochen, dass er ihre Fähigkeiten für sich nutzen wollte. Wozu konnte er das brauchen? Zoe konnte nur selbst die letzten Sekunden des Todes sehen, ob es möglich war, andere sehen zu lassen, konnte sie nicht sagen. Wenn sie es niemals jemand anderem erzählt hatte, konnte sie auch niemand anderen an ihrer Gabe teilhaben lassen.
Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und stapfte weiter.
Irgendwo in der Ferne sah Zoe einen roten Streifen am Horizont. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Morgen graute, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als mutterseelenallein durch Edinburgh zu stapfen. Sie seufzte und schlang die Jacke fester um sich. Für eine Weile versuchte sie, ihren Kopf zum Schweigen zu bringen, auch wenn ein kleiner Teil von ihr froh war, dass das ständige Problem mit Adrian und die frische Trennung aus ihren Gedanken verdrängt worden war. Es nagte schon viel zu lange an ihr – sie hatte Adrian geliebt, sehr sogar, und tat es wahrscheinlich immer noch, aber sie konnte seinen Verrat nicht einfach hinnehmen. Umso dankbarer war sie, dass sie sich im Augenblick um andere Dinge sorgen musste. Wie beispielsweise um die Tatsache, dass irgendein Fremder von ihrem Geheimnis wusste.
Zoe hob den Kopf, um zu sehen, wo sie war, und erkannte überrascht das Aushängeschild des Fountainpark. Der Name gehörte einem lächerlich kleinen Rasenstück, das mit einigen Bäumen bepflanzt war, aber mittlerweile war der Fountainpark ein Einkaufs- und Vergnügungszentrum nahe der Stadtgrenze von Edinburgh. Jetzt, am Ende der Nacht, waren die Bars, Restaurants und die Kinosäle verwaist. Zoe befand sich allein mitten auf dem großen Parkplatz. »Hallo?«, rief sie unsicher und kam sich gleichzeitig ziemlich dumm dabei vor. »Hallo?« riefen die blonden Mädchen in den Horrorfilmen, fünf Minuten bevor man sie mit aufgeschlitzter Kehle in Großaufnahme zeigte.
Sie zuckte zusammen, als er plötzlich vor ihr stand: ein großer, elegant gekleideter Mann mit blonden Haaren, die er modisch kurz geschnitten trug. Sein Gesicht war attraktiv, aber für Zoes Geschmack zu perfekt – absolut keine Auffälligkeit oder irgendein Makel waren darin zu finden. Er glich den Models auf den großen Plakaten und war ebenso auswechselbar. »Wie erfreulich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind«, sagte er mit warmer Stimme. »Mein Name ist Dumas.«
Er streckte seine Hand aus, und Zoe griff vorsichtig zu. Seine Hand war weich, aber seltsam kühl. Die Nägel waren kurz, und Zoe hätte darauf gewettet, dass sie sauber manikürt worden waren. Kein Fingernagel war von Natur aus so perfekt.
Sie zog ihre eigene Hand wieder zurück und steckte sie in die Jackentasche, um sich aufzuwärmen. »Sie wissen von dem, was ich tue – ich hatte keine andere Wahl«, sagte sie und hoffte, dass ihre Unsicherheit ihr nicht anzumerken war. Dass er um ihre Gabe wusste, machte sie nervös.
Der Mann namens Dumas lächelte. »Es tut mir leid, wenn es so aussah, als würde ich sie erpressen wollen.«
»Was? Oh nein, das meinte ich nicht. Aber ich möchte gerne wissen, woher sie von ... von meiner Gabe wissen.«
Dumas legte leicht den Kopf schief, als würde er nachdenken und seine Worte mit Bedacht wählen, ehe er antwortete: »Eigentlich ist es ziemlich offensichtlich, wenn man ein wenig genauer hinsieht. Selbst Ihre Freunde bei der Polizei wissen es, ohne es wirklich zu ahnen. Lucky Charm, das ist doch der Name, den Sie bekommen haben, richtig?«
Dumas sah vollkommen unschuldig aus, als er das sagte, aber Zoe überliefen heiße und kalte Schauer. »Sind Sie ein Stalker? Wie lange beobachten Sie mich schon?!«, fragte sie aufgebracht und wich zurück. Was wusste dieser Kerl noch?!
Dumas hob beruhigend die Hände. »Es war niemals meine Absicht, derart in Ihre Privatsphäre vorzudringen, Zoe. Ich hätte das auch niemals getan, wenn mich die äußeren Umstände nicht dazu zwingen würden.«
»Welche äußeren Umstände?«
»Ein Mörder.« Dumas ließ die Hände sinken. »Er hat sein
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