Die Schattenträumerin
schätzen, dass sie in dieser Zeit keinen Albtraum bekommen hatte. Vielleicht war ihre Ohnmacht einfach zu tief gewesen, Francesca vermutete jedoch, dass die Zeichen des Pentagramms sie vor Nyarlath geschützt hatten.
Gianna sah sie mit ernster Miene an. »Ich möchte mich noch einmal bei dir von ganzem Herzen entschuldigen – ohne, dass ich von Nonna dazu gezwungen werde.«
»Wofür denn?«, fragte Francesca irritiert.
»Für das, was ich dir gestern an den Kopf geworfen habe, du weißt schon …« Sie blickte zur Seite und nestelte verlegen an einem Stofffetzen der Chaiselongue herum. Trotzdem konnte Francesca erkennen, wie sich ihre Wangen röteten. »Dass du nicht wirklich zu unserer Familie gehörst«, erklärte sie weiter und ihre Stimme war dabei so leise, dass Francesca sie kaum verstehen konnte. »Ich war in dem Moment davon überzeugt, dass mein Vorschlag der richtige ist und ich war sauer, dass du es nicht genauso siehst. Aber ich glaube, ich wollte dir auch wehtun, weil ich … ein wenig eifersüchtig war.«
Francesca blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Auf mich?«
Gianna nickte unglücklich. »Weil sich alles wieder nur um dich gedreht hat. Schon immer hatte ich das blöde Gefühl, dass du Nonnas Liebling bist, schließlich trägst du als Einzige von uns den Namen Medici. Du hast die schönen tizianroten Haare geerbt und immer, wenn du zu uns kommst, sind vor Freude alle ganz aufgeregt …« Gianna stockte einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Nun bist du auch noch diejenige, die dazu auserkoren sein soll, Venedig und unsere Familie zu retten und anstatt vor Angst davonzulaufen, stellst du dich allen Gefahren.«
»Aber das habe ich mir doch nicht ausgesucht! Ich wollte nie …«
»Das weiß ich doch«, fiel Gianna ihr ins Wort und verzog gequält das Gesicht. »Das war idiotisch von mir! Und unfair. Deswegen tut es mir auch so leid.«
Nun war es Francesca, die Gianna umarmte und an sich drückte. »Du bist die beste Cousine, die man sich wünschen kann«, versicherte sie ihr gerührt. »Wenn du an meiner Stelle wärst, hättest du alles mindestens genauso gut überstanden. Meistens hatte ich nur Glück und die Beschwörung war gar nicht so schlimm, wie du sie dir vorstellst.«
Das war nicht einmal gelogen. Die Beschwörung war in Wirklichkeit wahrscheinlich viel schlimmer gewesen, als Gianna sich das ausmalen konnte.
Hätte Francesca vorher auch nur ansatzweise geahnt, was sie erwartete, wäre sie wahrscheinlich tatsächlich vor Angst davongelaufen.
»Wenn das so ist, könntest du Alessandro gleich noch einmal beschwören«, schlug Gianna vor. »Und ihn fragen, wo er den doofen Dolch versteckt hat.«
Erschrocken sah Francesca auf, bis sie an Giannas ironisch hochgezogener Augenbraue erkannte, dass sie nur einen Spaß gemacht hatte.
»Vergiss es, so eine Beschwörung mache ich nie wieder«, erwiderte Francesca inbrünstig. Dann begann sie zu kichern. »Weißt du, was wirklich verrückt ist? Ich war auch auf dich eifersüchtig. Deine Zeichnungen sind wunderschön und ich habe mir oft gewünscht, dass ich nur einen Funken deines Talents hätte«, gestand sie. »Du hast einen tollen Vater und mit deinen dunklen langen Haaren bist du für mich das Ebenbild einer italienischen Schönheit. Wenn man indeine Augen sieht, ist man so verzaubert, dass man deine Gehbehinderung überhaupt nicht mehr bemerkt.«
Geschmeichelt strich sich Gianna eine Strähne aus dem Gesicht.
»Wir sind ganz schön bescheuert, oder?«, meinte sie schmunzelnd. »Nie hätte ich gedacht, dass du auf mich eifersüchtig sein könntest. Aber weißt du was?« Sie straffte die Schultern und strahlte über das ganze Gesicht. »Das fühlt sich richtig gut an!«
Francesca grinste breit. »Stimmt, mir geht es jetzt auch viel besser als vorher. Wir sollten uns öfter aussprechen.«
Gianna erhob sich gut gelaunt. »Los, lass uns weitersuchen! Bis wir nach Mestre fahren, haben wir noch viel Arbeit vor uns.«
Francesca verzog das Gesicht. An die Fahrt zum Festland wollte sie gar nicht erst denken. Beim Frühstück hatte man auf Violas und Stellas besorgtes Drängen hin beschlossen, heute bei Emilios Bruder in Mestre zu übernachten, da die Seismologen für die kommende Nacht noch stärkere Erdbeben prophezeit hatten. Antonio und Emilio hatten sich nur widerstrebend dazu bereit erklärt, den Palazzo sich selbst zu überlassen. Wie in einer Familiendemokratie üblich, waren die Kinder gar nicht erst nach ihrer Meinung
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