Die Schattenträumerin
ausweichend und die Lüge war unüberhörbar. »Ich habe in den letzten zwei Nächten kaum geschlafen.«
Das konnte Francesca ihr besser nachfühlen, als ihre Mutter wohl ahnte.
»Francesca, ich spüre doch, dass bei dir etwas nicht stimmt«, ging ihre Mutter nun wieder zum Gegenangriff über. »Bitte sag mir die Wahrheit: Hast du irgendeine Dummheit vor?«
Francesca biss sich auf die Lippe. Was sollte sie darauf nur antworten? Aus der Sicht ihrer Mutter hatte sie wahrscheinlich eine riesige Dummheit vor. Aber hatte sie denn eine andereWahl? Sie steckte schon zu tief in dieser Geschichte drin. Schon lange ging es nicht mehr nur um sie selbst – dies betraf ihre ganze Familie, mittlerweile sogar ganz Venedig.
»Muss ich etwa nach Venedig kommen?«, drohte ihre Mutter. Francesca kannte diesen Tonfall. Es war der gleiche, den Fiorella an den Tag legte, wenn ihr etwas absolut nicht gefiel. »Im Ernst, ich nehme sofort den nächsten Flieger, wenn du nicht endlich mit der Sprache rausrückst.«
»Nein, du musst nicht kommen«, beeilte sich Francesca zu sagen. »Mach dir keine Sorgen um mich. Bitte vertraue mir!«
»Du machst es mir nicht gerade leicht. Erzähl es mir doch einfach! Vielleicht kann ich dir ja helfen?«
Francesca schluckte schwer. »Es tut mir leid, ich würde es dir wirklich gerne sagen …« Sie sehnte sich mit ganzem Herzen danach, genau dies zu tun. Vielleicht könnte ihre Mutter ihr tatsächlich einen Rat geben? Vielleicht war sie tatsächlich auf einem falschen Weg? Sie seufzte schwermütig auf. »Aber du würdest mir sowieso nicht glauben.«
»Bitte, Francesca«, flüsterte ihre Mutter.
Francesca öffnete den Mund, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. Dabei war ihr klar, dass sie schon allein durch ihr langes Schweigen ihre Mutter verletzte. Wie aus weiter Ferne nahm sie ein vielstimmiges Klirren und Sirren wahr, das erst nach und nach in ihr Bewusstsein drang. Erschrocken sah sie auf.
Auch ihre Mutter schien es gehört zu haben. »Was ist das für ein Geräusch?«, rief sie panisch. »Was ist bei euch los?«
Wie immer hatte das Beben ohne Vorwarnung eingesetzt und schon war es so stark, dass Francesca nur noch mit Mühe das Gleichgewicht halten konnte. Sie ging in die Knie und stützte sich mit einer Hand am Boden ab.
»Mama, ein Erdbeben«, schrie sie, ehe sie den Hörer fallen ließ. Auf allen vieren durchquerte sie die Küche. Die Möbel bogen sich mal nach links, mal nach rechts, verformten sich, als seien sie aus Pappe, Schranktüren wurden wie von Geisterhand aufgerissen. Das Geschirr prasselte direkt neben Francesca zu Boden und Glassplitter bohrten sich in ihre Hände und Knie. Mit einem verzweifelten Sprung flüchtete sie sich unter den Tisch, zog die Knie an und vergrub ihren Kopf unter den Händen. Sie wollte all dies ausblenden, zählte die Sekunden, um sich von ihrer Angst abzulenken. Doch dann ließ sie ein neues Geräusch erstarren.
Ein tiefes Grollen erschütterte den Palazzo.
Noch nie hatte Francesca einen so gewaltigen Laut gehört. Es war eine Art steinernes Ächzen. Jedes Haar an ihrem Körper stellte sich vor grausigem Entsetzen auf. Es klang, als würde etwas unglaublich Schweres entzweigerissen.
Dann war es vorbei.
Langsam hob Francesca den Kopf. Die Küche war vollkommen verwüstet, Schränke hingen schief an der Wand, der Boden war übersät mit Besteck, Pfannen und Scherben. Durch den Palazzo hallten aufgeregte Stimmen.
Schräg gegenüber sah Francesca einen breiten, gezackten Riss, der sich quer über die ganze Wand zog. Mit zittrigen Knien lief sie zurück zum Telefon.
»Mama? Bist du noch da?« – Doch die Leitung war tot.
Fiorellas Plan lief nicht ganz so reibungslos ab, wie sie es sich gewünscht hatten. Als sie in Mestre ankamen, war Stella nicht davon abzubringen, sie zu Maria zu begleiten. Allerdings vermutete Francesca, dass sie dies aus reiner Fürsorglichkeit tat und nicht, weil sie irgendetwas von der heimlichen Flucht ahnte. Gianna presste Francesca zum Abschied so fest an sich, dass sie kaum noch atmen konnte, und als sich Gianna schließlich von ihr abwandte, den Korb mit Cosimo an sich gedrückt, funkelten dicke Tränen in ihren Augen.
Fiorella und Francesca blieb keine andere Wahl, als gemeinsam mit Stella zu Marias Haus zu laufen. Als sich die Tür öffnete, beschleunigte sich Francescas Herzschlag. Glücklicherweise schien Fiorella jedoch an alles gedacht und bei ihrer Freundin angerufen zu haben, um ihr Kommen anzukündigen.
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