Die Schattenträumerin
geschlossen. Doch Francesca registrierte dies kaum. Sie sackte benommen zu Boden. Was sie in den letzten Minuten erlebt hatte, war zu viel für sie gewesen. Die Welt verschwamm vor ihren Augen, dann umfing sie wohltuende Dunkelheit.
F rancesca wedelte eine Spinnwebe vor ihrem Gesicht zur Seite und öffnete einen der Kartons. Babyklamotten, Vorhänge, alte Fotos, Urlaubserinnerungen aus fremden Städten. Kein Dolch. Schon wieder nicht. Dabei krochen Gianna und sie schon seit Tagesanbruch hier im Speicher des Palazzos herum. Sie seufzte frustriert und sah sich in dem weitläufigen, vollgestellten Raum um. Ihr Blick fiel auf Tische mit zersprungenen Marmorplatten, restaurierungsbedürftige Büsten und Statuen, Sofas mit aufgerissenen Polstern und herausquellenden Eingeweiden. Wie eine Decke lag der Staub auf den schlafenden Möbeln, als Visitenkarte der Zeit. Sein gräuliches Weiß erinnerte Francesca an das Haar alter Menschen.
Gianna stieß ein so entsetztes Kreischen aus, dass Francesca sofort aufsprang und besorgt zu ihr eilte. Ihre Cousine war leichenblass und deutete mit zitterndem Finger auf einen antiken Schrank, dessen Türen schief in den Angeln hingen.
»Sp-sp-spinnen …«, stammelte sie. »Ganz viele Spinnen.«
Francesca lächelte halb verständnisvoll, halb belustigt. Gianna hasste Spinnen. Sie warf einen prüfenden Blick in den Schrank, konnte jedoch nur drei oder vier kleinere Exemplare entdecken.
»Die wuseln voller Panik hin und her«, stellte sie in vorwurfsvollem Ton fest. »Anscheinend hast du die armen Spinnen in Angst und Schrecken versetzt.«
Gianna schüttelte sich angeekelt und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich mit so vielen dieser achtbeinigen Viecher unter einem Dach lebe,hätte ich nachts kein Auge mehr zugemacht. Hast du gewusst, dass ein Mensch in seinem Leben im Durchschnitt achtzig Spinnen verschluckt, während er schläft?«
»Ach ja? Und wie hat man das herausgefunden?«, fragte Francesca mit hochgezogener Augenbraue. »Eine Befragung unter Spinnen zu den Top Ten der häufigsten Todesursachen?«
Gianna verschränkte die Arme vor der Brust und streckte ihr die Zunge heraus.
»Wir sind hier in Venedig, einer Stadt im Meer. Wie kommen Spinnen überhaupt hierher?«, fuhr sie missmutig fort, während Francesca mit dem Knöchel ihres Zeigefingers den Schrank nach einem Geheimfach oder einem doppelten Boden abklopfte. »Das ist sicherlich nicht ihr natürlicher Lebensraum.«
»Sie haben sich wahrscheinlich ein Mini-Floß gebaut und sind nach Venedig gerudert.« Francesca warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu, wurde dann jedoch wieder ernst. »In diesem Schrank ist jedenfalls nichts versteckt.«
Seufzend nahm sie auf einer abgewetzten Chaiselongue Platz. »Ich habe leider auch noch nichts gefunden. Der Palazzo ist riesig und der Dolch könnte sonst wo sein.« Sie deutete auf den Fußboden. »Vielleicht hat Alessandro ihn unter einer dieser unzähligen Dielen versteckt oder hinter der Wandvertäfelung in Fiorellas Zimmer. Vielleicht wurde er in den letzten Jahrhunderten aber auch schon von einem Medici gefunden und verkauft. Wir haben keine Ahnung.«
Sie saßen sich schweigend gegenüber. Giannas verzweifeltemGesichtsausdruck war anzusehen, dass auch sie sich ihrer geringen Chancen bewusst war.
»Aber was willst du tun? Aufgeben?«, fragte sie vorsichtig.
»Nein, natürlich nicht. Es ist nur so …«, Francesca hob die Schultern an, dann ließ sie die Arme ermattet auf die Knie sinken, »… frustrierend. Wir haben so viel durchgestanden, stehen kurz vor dem Ziel und nun suchen wir die Nadel im Heuhaufen.«
Gianna setzte sich neben sie, legte einen Arm um Francescas Schulter und drückte sie an sich. »Nicht wir, du hast das alles durchgestanden!«, widersprach sie. »Du hast dich sogar getraut, mit diesem Teufelsbuch unseren Vorfahren zu beschwören. Dazu hätte ich nie und nimmer den Mut aufgebracht, allein wenn ich daran denke, wird mir schon ganz schlecht.«
Gianna erschauderte sichtlich, dann warf sie Francesca einen beleidigten Seitenblick zu. »Ich werde dir übrigens nie verzeihen, dass ich über eine Stunde draußen vor der Tür stehen musste und vor Sorge halb verrückt geworden bin, während du ein Nickerchen im Pentagramm gehalten hast!«
»Ich habe nicht geschlafen«, protestierte Francesca. »Mein Körper hat nur beschlossen, dass es an der Zeit wäre, sich etwas auszuruhen.« Sie konnte sich wirklich glücklich
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