Die Schattenträumerin
Augen, der langsam wie eine Raubkatze auf sie zuschlich. Ein Teil ihres Verstandes stellte kaltblütig fest, dass dies vielleicht ihre einzige Chance war, Alessandro die Wahrheit zu entlocken.
»Du kannst etwas tun: Sag mir, wie ich den Fluch aufheben kann!«
»Aber das hilft dir doch im Moment überhaupt …«
»Sag es mir!«, fiel sie ihm eisig ins Wort.
»Also gut«, lenkte Alessandro ein. Er hätte ihr in seiner Verzweiflung wahrscheinlich alles gestanden. »Du musst das Necronomicon der Medicis zerstören. Denn nur mit dem Exemplar, mit dem ich Nyarlath beschworen habe, lässt sich der Fluch aufheben. Wenn du das Necronomicon vernichtest, ist der Fluch aufgehoben und Nyarlath hörtauf, in unserer Welt zu existieren. Auch aus diesem Grund muss er das Buch unbedingt in seinen Besitz bringen. Es ist sein einziger verwundbarer Punkt.«
Der Jenseitige schien des Katz- und Maus-Spiels müde geworden zu sein, auch wenn er sich sichtlich an Francescas steigender Panik geweidet hatte. Genüsslich hatte er den Duft ihrer Angst eingesaugt. Doch nun näherte er sich ihr zielstrebig.
»Aber es lässt sich nicht zerstören«, wandte Francesca aufgeregt ein. »Ich habe es schon versucht.«
Sie presste beide Hände vor den Mund, um ihre panischen Schreie zurückzuhalten. Sie wich so weit zurück, wie es der innere Kreis des Schutzpentagramms zuließ. Immerhin war dieser unversehrt, sodass der Jenseitige nicht auch in ihn eindringen konnte. Doch er war nahe genug. Er musste nur seine Krallenhand ausstrecken, um sie berühren zu können.
Und genau das tat er.
»Wie ich schon gesagt habe, ist dieses Buch ein ganz besonderes Exemplar – es lässt sich nicht so einfach vernichten«, erklärte Alessandro. »Durch mein Blut ist es auf einen Medici geprägt und nur das Blut eines Medici kann diesen Bann wieder aufheben. Nur du allein, Francesca, kannst Venedig noch retten.«
Die verkrümmten Finger bohrten sich in Francescas Nacken. Mit einem gierigen Lechzen riss der Jenseitige sie zu sich heran. Sofort schloss sich seine Hand um ihren Hals und schnürte ihr die Luft ab, während stinkende Speichelfäden ihr Gesicht benetzten.
»Wenn das Necronomicon dein Blut getrunken hat, bist du die Meisterin des Buches und kannst es vernichten. Doch du musst den gleichen Dolch dafür benutzen, den ich genommen habe. Es ist ein besonderer Dolch, der von einem Schwarzmagier hergestellt worden ist.«
Francesca wehrte sich aus Leibeskräften, doch gegen die Stärke des Jenseitigen konnte sie nichts ausrichten. Warum ging diese Beschwörung nicht endlich zu Ende? Die sieben Minuten, von denen Knüttelsiel geschrieben hatte, mussten doch schon längst vergangen sein. Sie wollte, dass dies alles endlich aufhörte!
»Der Zauber lässt nach. Etwas zieht mich zurück«, rief Alessandro alarmiert. »Francesca, du musst dieses Buch zerstören! Nur du kannst gutmachen, was ich einst angerichtet habe.«
Francesca japste nach Luft. Verzweifelt versuchte sie, die Hand des Jenseitigen abzuschütteln, doch sie drückte nur noch gnadenloser zu. Vor ihren Augen begannen bunte Sterne zu tanzen.
Sie spürte, wie ihr Körper plötzlich aufhörte, sich zu wehren. Eine seltsame Schwere breitete sich in ihren Gliedern aus.
»Wo ist der Dolch?«, krächzte sie mit letzter Kraft.
Nur noch mit halbem Bewusstsein registrierte Francesca, dass das Flackern der Lampe nachließ und sich der schwarze Nebel in Alessandros Pentagramm zurückzog. Die Gestalt ihres Vorfahren verlor ihre Konturen und wurde seltsam durchsichtig.
»Er ist hier im Palazzo.«
Alessandros Stimme wurde immer leiser und drang wie aus weiter Ferne zu ihr. »Ich wusste, dass er nicht dem Rat der Zehn in die Hände …«
Nun konnte sie ihn kaum mehr verstehen.
»… fallen durfte. Deswegen habe ich ihn sicher verwahrt. Er ist …«
Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie er seinen Mund bewegte, aber seine Stimme war nicht mehr zu hören.
Er streckte die Hand aus, doch ehe Alessandro in eine Richtung deuten konnte, wurde er von der hin- und herzuckenden Nebelsäule wie von einem Mahlstrom erfasst, sie riss Alessandro mit sich, zurück in das Necronomicon. Im selben Moment war auch der Jenseitige verschwunden und Francescas Lunge füllte sich wieder mit Sauerstoff.
Röchelnd fasste sie sich an den schmerzenden Hals. Es brannte so sehr, als würde sie flüssiges Feuer atmen. Erst nach und nach beruhigte sich ihr Körper wieder. Die Beschwörung war zu Ende, das Portal hatte sich
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