Die Schattenträumerin
gefragt worden. Die Entscheidung war gefällt: Heute, am späten Nachmittag, würde die Familie den Palazzo Ca’nera verlassen. Francesca wusste, dass sie sich diesem Entschluss nicht widersetzen konnte, aber ebenso war ihr klar, dass sie Venedig nicht verlassen durfte. Nicht in der heutigen Nacht, nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand.
Gianna wandte sich zur Tür und legte einen Zeigefinger an die Lippen. »Ruft da nicht jemand?«
Tatsächlich – durch die geöffnete Tür des Dachbodens drang von weit her Violas Stimme zu ihnen, die Francescas Namen rief.
»Ich glaube, dein Typ wird verlangt«, meinte Gianna. »Ich suche solange weiter. Wenn du ein lautes Kreischen hörst, habe ich entweder den Dolch gefunden oder versehentlich in eines der Spinnennester gefasst.«
Francesca sauste die Treppen hinunter und platzte atemlos in die Küche. Ihre Tante Viola stand am Fenster, den Rücken zur Tür gewandt, und telefonierte. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass Francesca ins Zimmer getreten war.
»… lässt sich nichts anmerken, du kennst sie ja«, sagte sie gerade mit gedämpfter Stimme. »Sie besteht darauf, dass niemand etwas davon erfährt. Die Kinder sollen sich keine Sorgen machen!«
Francesca runzelte die Stirn. Was meinte Viola denn damit? Sie trat näher heran, den Blick fest auf Violas Rücken gerichtet. Zu ihrem Pech stieß sie dabei jedoch gegen einen Putzeimer, den jemand mitten im Zimmer abgestellt hatte.
Viola fuhr herum und machte ein ertapptes Gesicht. Sie räusperte sich. »Nun, wie gesagt, deine Tochter ist in den letzten Monaten ja völlig abgemagert, nur noch Haut und Knochen«, plapperte sie eilig ins Telefon, als hätte sie gerade von nichts anderem gesprochen. »Aber keine Sorge, Isabella, ich päpple sie wieder auf. Wenn wir dir Francesca zurückschicken, wirst du sie nicht mehr wiedererkennen!«Viola hielt einen Moment inne, dann zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. »Was meinst du denn mit, ›du möchtest kein fettes Kind zurückhaben‹? Zwischen gesund und fett ist ja wohl ein bedeutender Unterschied!«
Auf Violas Gesicht lag immer noch absolute Verständnislosigkeit, als sie Francesca den Hörer in die Hand drückte und mit Putzeimer und Wischmopp bewaffnet die Küche verließ. Warum sie ausgerechnet an einem Tag, an dem Venedig der Untergang drohte, noch den Boden wischen musste, war Francesca ein Rätsel. Aber wahrscheinlich wollte sie sich nur irgendwie ablenken.
»Hallo, Mama!«
Anstatt einer Antwort hörte sie am anderen Ende der Leitung ein geräuschvolles Tröten. Anscheinend putzte sich ihre Mutter gerade die Nase.
»Francesca«, meldete sie sich einen Augenblick später. Sie klang seltsam bewegt, als hätte sie eben noch geweint. »Ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Ich habe schon unzählige Male auf deinem Handy angerufen, seit ich im Fernsehen von den Erdbeben erfahren habe.«
In der Stimme ihrer Mutter lag so viel tief empfundene Sorge, dass Francesca sofort Schuldgefühle bekam. Sie hätte sich in den vergangenen Tagen wirklich einmal bei ihr melden können!
»Tut mir leid, Mama, mein Handy habe ich gar nicht bei mir. Ich hätte natürlich zurückgerufen, wenn ich deine Anrufe gesehen hätte.«
Noch ehe sie es ausgesprochen hatte, ahnte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihre Mutter wusste, dass Francescaim Normalfall keinen Schritt ohne ihr Handy machte. Sie spürte förmlich, wie ihre Mutter gerade die Stirn runzelte.
»Du trägst dein Handy nicht mit dir herum? Bist du krank?«, fragte sie misstrauisch.
»Quatsch, ich habe es nur verlegt. Du kannst dir sicher vorstellen, was hier für eine Aufregung herrscht seit diesen Erdbeben«, versuchte sie ihre Mutter zu beschwichtigen und startete ein Ablenkungsmanöver: »Ich habe dich beim letzten Mal ganz vergessen zu fragen, wie deine Reise war?«
»Was für eine Reise?«, fragte ihre Mutter zerstreut. »Ach, du meinst die Feier für die führenden Angestellten in der Schweiz … Ich bin früher abgereist, das war nicht ganz meine Welt. Erst dort ist mir aufgefallen, dass ich Silvester lieber mit dir verbracht hätte, so wie jedes Jahr. Ich habe dich vermisst.«
»Ich dich auch.«
Mit erschreckender Klarheit wurde Francesca plötzlich bewusst, dass sie vielleicht zum letzten Mal mit ihrer Mutter sprach. Bisher hatte sie solche Gedanken zu verdrängen versucht – sie musste den Dolch finden, alles andere blendete sie aus. Doch bei der Vorstellung, dass das Treffen mit Nyarlath ein
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