Die Schattenträumerin
schlechtes Ende nehmen könnte, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Ihr Optimismus und ihre Selbstbeherrschung, an die sie sich in den letzten Tagen so eisern geklammert hatte, begannen ihr zu entgleiten und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste, dass es ihrer Mutter das Herz brechen würde, wenn ihr etwas zustieße.
»Ich hab dich lieb, Mama. Bitte denk daran, egal, was passiert«,rutschte es ihr mit bewegter Stimme heraus, ehe sie es verhindern konnte.
»Was soll denn passieren?«, fragte ihre Mutter in scharfem Tonfall. »Francesca, was ist bei dir los?«
Francesca schwieg. Alles in ihr sträubte sich dagegen, ihre Mutter anzulügen.
»Du wirst doch mit den anderen in Mestre übernachten, oder?«, hakte sie nach. Ihr untrügliches Gespür dafür, wenn Francesca Probleme hatte oder ihr etwas verschwieg, war geradezu unheimlich.
Francesca schluckte schwer. Hätte ihre Mutter sie nicht fragen können, ob sie mit den anderen nach Mestre fuhr? Denn diese Frage hätte sie ohne zu zögern bejahen können.
Sofort nach dem Familienbeschluss war Francesca nämlich in Fiorellas Zimmer geeilt, um sie um ihre Hilfe zu bitten. Ihre Großmutter hatte sichtlich gezögert, denn natürlich war sie ebenfalls um Francescas Sicherheit besorgt und wollte sie nicht unnötig in Gefahr bringen. Doch Francesca hatte so verzweifelt auf sie eingeredet, bis sie sich schließlich geschlagen gab. So hatte Fiorella ihre Töchter darüber informiert, dass sie nicht im Traum daran dächte, in der völlig überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnung von Emilios Bruder zu übernachten und stattdessen bei ihrer alten Freundin Maria unterkommen würde, die ebenfalls in Mestre wohnte. Da sie vor Francescas Abreise gerne noch etwas Zeit mit ihrer Enkelin verbringen wolle, habe sie vor, Francesca zu Maria mitzunehmen. Zu Francescas Erleichterung hatten Viola und Stella nichts gegen den Vorschlag einzuwenden. So würden Fiorella und Francesca zwar gemeinsam mit der Familienach Mestre fahren, aber sobald die anderen außer Sichtweite waren, würden sie mit einem Taxiboot nach Venedig zurückkehren. Das war jedenfalls ihr Plan.
»Du weißt schon davon, dass wir alle nach Mestre fahren?«, fragte Francesca ausweichend. »Das wurde doch eben erst beim Frühstück beschlossen.«
»Viola hat es mir gerade erzählt und ich bin offen gestanden sehr froh darüber, dich in Sicherheit zu wissen. Du wirst heute dort übernachten und dann kommst du morgen früh sofort nach Hause, hörst du?«
Francesca schnappte nach Luft. Das konnte ihre Mutter unmöglich ernst meinen! Was war nur los mit ihr? Sie benahm sich plötzlich wie eine überfürsorgliche Glucke, so kannte Francesca sie überhaupt nicht.
»Aber ich habe schon ein Ticket für die Rückfahrt gekauft, mein Zug fährt erst in drei Tagen. Warum soll ich denn morgen früh schon nach Hause kommen?«, stieß sie patzig aus.
»Weil ich es dir sage!«, befahl ihre Mutter in schrillem Ton.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Francesca hörte, wie ihre Mutter leise schniefte.
Misstrauisch blickte sie auf den Hörer, als könnte er ihr verraten, was mit ihrer Mutter los war. So seltsam hatte Francesca sie noch nie erlebt. »Mama, was hast du denn?«, fragte sie, nun wieder sanfter.
»Ach, es ist im Moment alles etwas viel. Zuerst der Unfall deiner Großmutter, dann die Erdbeben, die Sorge um dich und jetzt auch noch …«
Sie hielt abrupt inne, als hätte sie sich im letzten Moment stoppen können, ein Geheimnis preiszugeben.
Sofort dachte Francesca daran, was Viola vorhin zu ihrer Schwester gesagt hatte: Sie besteht darauf, dass niemand etwas davon erfährt. Die Kinder sollen sich keine Sorgen machen!
Plötzlich fiel ihr auch wieder ein, dass Stella an dem Tag, als Fiorella aus dem Krankenhaus entlassen wurde, rot geränderte, verweinte Augen hatte. Egal, was es war, das die drei Schwestern so sehr mitnahm, es musste etwas Schlimmes sein.
»Was ist denn außer dem Unfall und den Erdbeben sonst noch geschehen?«, bohrte Francesca weiter.
Anstatt einer Antwort stieß ihre Mutter nur ein unterdrücktes Schluchzen aus. »Bitte, Francesca, bring dich in Sicherheit. Ich will dich nicht auch noch verlieren!«
»Mama, mach dir keine Sorgen, ich passe auf mich auf«, versicherte sie ihr. »Aber was meinst du denn damit, dass du mich nicht auch noch verlieren willst?«
Ihre Mutter atmete tief durch und räusperte sich. »Nichts. Bitte entschuldige. Ich bin wohl etwas neben der Spur«, sagte sie
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