Die Schattenträumerin
Tischplatte herunter. Francesca stieß einen Jubelschrei aus. Das war die Schrift ihres Großvaters! Im Restaurant hing ein gerahmtes Gedicht über Venedig an der Wand, das er selbst verfasst und niedergeschrieben hatte. Leonardos weit geschwungene Großbuchstaben mit den kleinen Kringeln waren unverwechselbar.
Als ihre Hand zitternd nach dem Zettel griff, näherten sich ihr von hinten schlurfende Schritte. Ohne sich umzudrehen, rief Francesca begeistert: »Nonna, du kommst genaurichtig! Endlich habe ich etwas gefunden. Im letzten Buch war ein Zettel von Großvater.« Sie spürte, wie ihre Wangen vor Aufregung zu glühen begannen. »Das könnte der Hinweis sein, den wir gesucht haben. Leider ist Großvaters Schrift nicht so einfach zu entziffern … Eine Lhr … Oje, ist das jetzt ein L oder ein C? « Sie starrte mit gerunzelter Stirn auf den Papierfetzen.
Die Schritte waren nun direkt hinter Francesca.
Sie stoppten erst, als sie unsanft an eines der Stuhlbeine stießen.
»Hoppla, hast du etwa deinen Stock vergessen?«, murmelte Francesca nachdenklich und rückte ihren Stuhl wieder zurecht. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich glaube, ich habe jetzt den Anfang: Eine Chronik des Unglücks. Das klingt nach einem Buchtitel.«
Ihre Großmutter schwieg – vermutlich nestelte Fiorella schon voller Ungeduld an den Kordeln ihrer nachtschwarzen Lieblingsstola und verfluchte die Tatsache, dass sie Francesca den Zettel nicht einfach abnehmen und ihn selbst entziffern konnte. Sie hätte wahrscheinlich nur wenige Sekunden dafür benötigt. Meine Güte, dachte Francesca zerknirscht, da beschwerten sich die Lehrer in der Schule über ihre Handschrift, aber was hätten sie erst zu der ihres Großvaters gesagt?
»So, jetzt habe ich es aber«, verkündete sie zufrieden. »Eine Chronik des Unglücks – Venedigs Fluch durchzieht die Jahrhunderte, von Rafael Clementoni und Nachfahren. Kennst du das Buch zufällig?«
Gerade als sie sich fragend zu ihrer Großmutter umwendenwollte, bemerkte sie den Geruch. Er stieg ihr so unvermittelt in die Nase, dass ihr Körper augenblicklich mit einem trockenen Würgen reagierte.
Es roch nach Verwesung, verdorbenem Fleisch, Fäulnis.
Aber da war noch etwas anderes. Francesca war so auf den Zettel ihres Großvaters konzentriert gewesen, dass sie es überhaupt nicht wahrgenommen hatte, obwohl das Geräusch die ganze Zeit über zu hören gewesen war. Erst jetzt registrierte sie es. Dieses rasselnde Keuchen.
Francesca war wie gelähmt. Ihr Blick war starr geradeaus auf die Fensterscheibe gerichtet, in der sie, erhellt durch das schwache Licht des Leuchters, ihr Spiegelbild erkennen konnte. Sie sah ihre eigenen, vor Schreck geweiteten Augen. Statt des Schreies, der in ihrer Kehle saß, entwich ihr nur ein heiseres Krächzen. Hinter ihr stand nicht ihre Großmutter.
Sein heißer Atem streifte über ihren Nacken, als das Wesen sich nach vorne beugte.
Gleichzeitig tauchte ein Arm über ihrer rechten Schulter auf. Die Haut war von einem leblosen, toten Weiß und glänzte ölig. Die Finger waren verkrümmt, die kurzen Nägel von einem glänzenden Schwarz. Sie waren nach unten gebogen wie die Krallen eines Adlers. Der Zeigefinger, der deutlich länger war als die übrigen Finger, wanderte nun in Richtung ihres Halses. Das Wesen stieß ein gieriges Lechzen aus.
Das Geräusch riss sie endlich aus ihrer Starre. Francesca reagierte instinktiv. Sie sprang in die Höhe und stieß dabei mit aller Wucht ihren Stuhl nach hinten. Ohne an einemögliche Verletzung zu denken, ließ sie sich seitwärts auf den Boden fallen und rollte sich über die Schulter ab. Dann hatte sie es jedoch so eilig, wieder auf die Beine zu kommen, dass ihre Füße auf den Marmorfliesen immer wieder abrutschten. Es waren nur zwei, drei gescheiterte Versuche, doch in ihrer Situation waren sie entscheidend. Francesca wusste, dass die wenigen Sekunden, die ihr der Überraschungseffekt eingebracht hatte, dahin waren. Ihr brach der Angstschweiß aus. Jetzt war sie verloren! Sicherlich war das Wesen schon direkt hinter ihr. Sie glaubte sogar, die ausgestreckte Hand spüren zu können, die sich ihrem Rücken unaufhaltsam näherte. Panisch wälzte sie sich zur Seite und … erstarrte.
Einige Schritte von ihr entfernt lag der Stuhl umgekippt auf dem Boden, ansonsten war alles normal.
Das Wesen war weg.
»Da war ein Schrei … und dann stand es hinter mir und wollte über mich herfallen«, stammelte Francesca. »Bitte,
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