Die Schattenträumerin
ihr ins Wort. »Unsere Welt ist großartig genug, um dort jeden Tag neue Dinge zu erleben. Wenn man den Wunsch hat, in die Welt eines Buches zu flüchten, dann nur, weil man sich dahinter verstecken will und nicht den Mut hat, etwas aus seinem Leben zu machen. Die Realität bietet uns genug Abenteuer.«
Mit ihrer letzten Aussage hatte Fiorella allerdings recht. Auf die Abenteuer, die Francesca in den vergangenen Tagen erlebt hatte, hätte sie jedoch gerne verzichtet. Wie viel angenehmer war es doch, eingekuschelt in die Wärme und Sicherheit des eigenen Bettes, von den gefährlichen Abenteuern eines anderen zu lesen. Ein Frösteln überlief sie, als siean das Spiegelbild dieses schaurigen Wesens dachte. Noch immer konnte sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken fühlen. Lieber hätte sie hundert der schlimmsten Gruselbücher hintereinander gelesen, als so etwas selbst erleben zu müssen.
»Aber …«
Fiorella hob abwehrend die Hand. »Du musst dir nicht die Mühe machen, mit mir darüber zu diskutieren, Francesca. Auch deine Mutter war von klein auf eine begeisterte Leserin. Sie liebte Bücher, genau wie dein Großvater. Abends saßen sie immer in holder Eintracht vor dem Kaminfeuer und haben in ihren Büchern gelesen. Die beiden haben oft genug versucht, mich von ihrer absurden Bücherliebe zu überzeugen. Sie haben es nicht geschafft.«
Sofort musste Francesca an den jährlichen Skiurlaub mit ihrer Mutter denken. Wehmut durchflutete sie. Wie gerne wäre sie jetzt dort gewesen, mit ihrer Mutter gemeinsam lesend auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin. Wenn ihre Mutter den Urlaub nicht abgesagt hätte, wäre Francescas Welt jetzt wahrscheinlich noch in Ordnung.
»Ich habe nie verstanden, warum die beiden so ein Theater um Bücher gemacht haben«, fuhr Fiorella fort. »Ich habe schon seit fünfzig Jahren kein Buch mehr gelesen. Hat es mir geschadet? Nein! Meinst du, der Herr hat uns das Leben geschenkt, damit wir es mit Bücherlesen verschwenden?«
Francesca wollte sich noch nicht geschlagen geben. »Und die Geschichten, die du uns immer erzählst, was ist damit?«, fragte sie listig.
»Wenn ich dir eine meiner Geschichten über Venedig erzähle, sitzen wir beieinander, sehen uns in die Augen, teilen die gleichen Gefühle. Das ist ein großer Unterschied. Bücher sind etwas Totes.«
Fiorella konnte nicht sehen, wie Francesca entsetzt den Kopf schüttelte. Bücher waren alles andere als tot. Für Francesca waren sie so viel mehr. Doch sie wusste nicht, wie sie dies Fiorella begreiflich machen konnte. Mit Büchern konnte man zu fantastischen Orten reisen, man wurde eins mit den Protagonisten, fieberte mit ihnen mit, knabberte vor Spannung an den Fingernägeln. Man lachte mit ihnen, man liebte, man weinte. Für sie war es so, als ob ihr durch die Bücher nicht nur eines, sondern viele Leben geschenkt worden wären. Und es gab einige wenige Bücher, die einen besonderen Zauber besaßen. Bücher, deren Welt in ihr auf wundersame Weise weiterlebte. Sie waren eine lieb gewordene Erinnerung, ein Zufluchtsort, ein Teil ihrer Seele. Und genau deshalb glaubte Francesca daran, dass es auch das Gegenteil davon geben konnte. Bücher, die eine Seele vergiften konnten.
Aber sie spürte, dass es nichts brachte, weiter mit Nonna darüber zu streiten und nach dem, was sie gerade erlebt hatte, hatte sie auch nicht die Kraft dazu. Fiorella würde ihre Meinung nicht ändern. Niemals würde sie sich von Francesca überzeugen lassen, dass das Necronomicon weit mehr war als nur ein toter Gegenstand. Ein Teil von ihr begann langsam zu begreifen, warum ihre Mutter ständig in Streit mit Fiorella geriet.
So seufzte Francesca als letzten Protest nur geräuschvollauf und erzählte ihrer Großmutter stattdessen von Leonardos Zettel, den sie gefunden hatte und auf dem ihrer Vermutung nach ein Buchtitel notiert war. Fiorella nahm die Nachricht jedoch weit weniger begeistert auf, als Francesca gehofft hatte.
»Noch ein Buch? Das bringt uns doch nicht weiter!« Fiorella erhob sich und lief auf die Vitrine zu. »Ich denke, es ist nun Zeit für unsere Abmachung.«
Schockiert sah Francesca dabei zu, wie Fiorella die Buchrücken abtastete und schließlich mit zufriedenem Lächeln das Necronomicon herauszog.
»Unsere Abmachung?«, fragte sie mit heiserer Stimme.
»Hast du etwa schon vergessen, dass ich dir erlaubt habe, Leonardos Bücher nach Hinweisen zu durchsuchen, obwohl ich von Anfang an wusste, dass das nichts bringen würde? Du kannst nicht
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