Die Schattenträumerin
wahrscheinlicher, dass Abdul Alhazred wegen der Hitze und des Wassermangels Halluzinationen bekommen hatte. In einem anderen Punkt konnte sich Francescasogar sicher sein, dass die Informationen nicht mit der Realität übereinstimmten: Es existierte sehr wohl noch ein Exemplar des Necronomicons. Nicht alle Bücher waren im Laufe der Jahrhunderte vernichtet worden. Geschützt von Wasser und Schlamm hatte ein Exemplar der Verfolgung entgehen können. Nun stand es wenige Schritte hinter Francesca in der geöffneten Vitrine. Obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte, glaubte sie, seine Präsenz zu spüren.
Ein kaltes Kribbeln kroch ihren Nacken hoch und runter. Als würde sie von jemandem beobachtet. Oder von irgend etwas . Ruckartig drehte sie sich um.
Da war nichts.
Nur die Vitrine mit den Büchern.
Natürlich, was hatte sie auch anderes erwartet? Francesca schüttelte den Kopf. Sie benahm sich wirklich lächerlich! Wahrscheinlich hatte sie in den letzten Tagen einfach zu viel über ominöse Zauberpraktiken und übernatürliche Mächte gelesen.
»Ist etwas passiert?«, fragte Fiorella. Sie musste gehört haben, wie Francesca erleichtert die Luft ausgestoßen hatte. »Hast du etwas gefunden?«
»Leider nicht«, gab Francesca zu und musste sich Mühe geben, sich ihre Niedergeschlagenheit nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. »Aber es sind ja noch drei Bücher übrig.«
Fiorella legte den Kopf schief. »Du klingst müde«, stellte sie fest. »Was kein Wunder ist – das stundenlange Lesen ist bestimmt anstrengend!« Sie setzte sich auf und griff nachihrem Stock. »Weißt du was? Ich gehe in die Küche und mache uns beiden einen Espresso. So einen Muntermacher kann ich ebenfalls gut gebrauchen. Leider Gottes habe ich heute Nacht unglaublich schlecht geschlafen, da ich einen Albtraum hatte. Davon sind meine Kopfschmerzen nicht gerade besser geworden.« Sie schlurfte mit ihren abgewetzten Pantoffeln zur Tür. »Aber mein Spezial-Espresso macht uns wieder fit, der ist so stark, dass er Tote aufwecken kann!«
Francesca grinste und verschwieg Fiorella lieber, dass ihre Mutter ihr ausdrücklich verboten hatte, Nonnas Spezial-Espresso zu trinken. »Danke, das ist lieb von dir!«
Nachdenklich sah sie ihrer Großmutter hinterher. Merkwürdig, auch Gianna hatte heute Nacht schlecht geschlafen. Mitten in der Nacht war Francesca von ihrem gellenden Schrei aufgeweckt worden. Gianna saß zitternd in ihrem Bett, ihre Augen huschten verängstigt durchs Zimmer und nur mit Mühe konnte Francesca sie beruhigen. Wenn sie Gianna nicht versprochen hätte, das Licht brennen zu lassen, hätte sie sich wahrscheinlich geweigert, sich wieder hinzulegen.
Francesca beugte sich erneut über das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte. Es war ein dickes Nachschlagewerk über Zauberbücher des Früh- und Spätmittelalters, bisher hatte sie jedoch noch nichts über das Necronomicon finden können. Sie blätterte weiter und konnte dabei ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. Vielleicht sollte sie einfach eine kleine Pause einlegen und warten, bis Fiorella mit dem Espresso wiederkam? Kurz entschlossen klappte sie dasBuch zu, lehnte sich zurück und schloss ihre brennenden Augen. Sie spürte, wie sich ihr Körper entspannte und eine angenehme Schläfrigkeit breitete sich in ihr aus. So eine Pause hätte sie schon viel früher …
RAAAARRRR!
Francesca setzte sich so abrupt auf, dass sie fast vom Stuhl fiel. Was war das für ein Geräusch gewesen?
Es hatte geklungen wie ein Schrei, allerdings hatte er nichts Menschliches an sich gehabt. Eiskaltes Grauen ergriff Francesca und lähmte jeden Muskel ihres Körpers. Es war ein grollender Laut gewesen, so tief, dass sie ihn nicht nur gehört, sondern mit jeder Faser ihres Körpers gespürt hatte. Und er klang drohend.
Sie hielt den Atem an. Im Palazzo rührte sich nichts, selbst das entfernte Hämmern und Klopfen des Umbaus war verstummt.
Zögernd stand sie auf, durchsuchte das Zimmer, öffnete die Tür und lauschte hinaus auf den Flur. Weit entfernt hörte sie Stimmengemurmel. Alles schien normal zu sein. Außer ihr hatte anscheinend niemand etwas gehört. Vielleicht war Fiorella auch nur Giannas Kater Cosimo auf den Schwanz getreten? Nein, der Schrei war viel zu nahe gewesen – als wäre er direkt neben ihr ausgestoßen worden. Ratlos ging Francesca zum Schreibtisch zurück und ließ sich auf den Stuhl sinken. Vielleicht war sie für einen kurzen Moment eingenickt und hatte sich den Schrei nur
Weitere Kostenlose Bücher