Die Schattenträumerin
Francesca bedrängte sie nicht weiter. Auch ihr war nicht nach Reden zumute. Sie schlug die Augen nieder und starrte auf ihre Hände. Wenn sie nur schneller gewesen wäre, nur einen Moment eher zugegriffen hätte … Natürlich war sie erleichtert, dass niemand aus der Familie ihr die Schuld an Fiorellas Unfall gab, doch das befreite sie nicht von ihrem eigenen schlechten Gewissen. Seit Stunden war sie in Gedanken immer und immer wieder das Geschehene durchgegangen, hatte nach dem einen Moment gesucht, in dem sie falsch gehandelt hatte. Sie hätte Nonnas Sturz irgendwie verhindern müssen … Wenn sie wenigstens mit jemandem darüber hätte reden können! Sie sehnte sich danach, Gianna die Wahrheit über den Unfall zu erzählen – aber dann hätte sie ihr auch alles über das Necronomicon und den Familienfluch erzählen müssen. Aber sie hatte ihrer Großmutter versprochen, diese Geheimnisse für sich zu behalten. Abgesehen davon standen die Chancen, dass Gianna ihr auch nur ein einziges Wort davon glaubte, mehr als schlecht. So wie es aussah, blieb ihr nichts anderes übrig, als allein mit allem klarzukommen.
Francesca lehnte sich erschöpft an die Wand. Sie war so unglaublich müde. Aber sobald sie die Augen schloss, hatte sie wieder die Bilder der vergangenen Nacht im Kopf. Die Dunkelheit, die Schattenfratzen, Nonnas reglosen Körper am Ende der Treppe …
Ein leises Schluchzen riss Francesca aus ihren Gedanken. Gianna hatte den Kopf auf ihre angezogenen Knie gepresst und obwohl Francesca ihr Gesicht nicht sah, konnte sie an Giannas bebenden Schultern erkennen, dass sie weinte.
Francesca setzte sich neben sie und strich ihr tröstend über den Rücken. »Hey, was ist denn los?«
»Ich … ich bin …«, begann sie, wurde jedoch von einem weiteren Weinkrampf unterbrochen.
Francesca betrachtete sie irritiert. Natürlich standen sie alle wegen Fiorellas Unfalls noch unter Schock – sogar Luca hatte geweint, als die Sanitäter gekommen waren und Fiorella ins Krankenhaus abtransportiert hatten. Aber steigerte sich Gianna nicht zu sehr in diese Sache hinein?
»Die Ärzte haben doch gesagt, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen«, versuchte sie ihre Cousine zu beruhigen. »Die Gehirnerschütterung wird Nonna zwar einige Tage Kopfschmerzen bereiten und ihr gebrochener Arm wird eine Zeit lang im Gips bleiben müssen – aber sie hatte wirklich einen Schutzengel! Bei dieser Treppe hätte sie sich auch den Hals brechen können.«
Gianna nickte schniefend. »Nonna hatte wirklich Glück.«
»Ihr Mundwerk scheint durch den Sturz ebenfalls nichts von der üblichen Bissigkeit eingebüßt zu haben«, fuhr Francescain aufmunterndem Tonfall fort. »Hast du gehört, was sie zu dem Pfleger gesagt hat, der ihr helfen wollte, aufzustehen? Er solle gefälligst aufhören, alte Frauen im Nachthemd zu begrapschen und sich eine Freundin in seinem Alter suchen!«
Gegen ihren Willen musste Gianna auflachen. »Bestimmt terrorisiert sie in der Zwischenzeit schon das ganze Krankenhaus und treibt die Oberschwester zur Verzweiflung.«
»Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn sie Nonna rausschmeißen und wir sie bei unserem nächsten Besuch mitsamt dem Bett vor der Eingangstür stehen sehen.« Francesca hielt ihr ein Taschentuch hin. »Hier, putz dir erst mal die Nase und dann erzählst du mir, was mit dir los ist.«
Gianna schnäuzte sich mehrmals und sah Francesca unsicher an.
»Du wirst mir sowieso kein Wort davon glauben.«
»Hast du eine Ahnung«, widersprach Francesca mit bitterem Unterton. »Mittlerweile glaube ich so ziemlich alles, was man mir erzählt.«
Gianna zögerte und blickte starr auf ihre Füße. Einen Moment lang befürchtete Francesca, sie finge wieder an zu weinen. Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »Ich glaube, ich bin schuld an Nonnas Unfall.«
Francesca entwich ein Laut der Überraschung. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. »Warum solltest du denn schuld daran sein?«, fragte sie verblüfft. »Das ist lächerlich, Gianna. Du warst nicht einmal in der Nähe, als es passiert ist.«
»Es geht auch eher darum, was vorher geschehen ist.«
Nun verstand Francesca überhaupt nichts mehr. »Und was ist vorher geschehen, wenn man fragen darf?«
»Ich sollte doch Nonna gestern Abend das Essen ins Zimmer bringen«, begann Gianna zu erzählen. »Als ich bei ihr war, war sie so … seltsam. Sie hat mich um einen Gefallen gebeten. Ich sollte ihr etwas aus einem alten Buch
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