Die Schattenträumerin
diesem einen Gegenstand zu verdanken, dass sie bisher gegen die Verlockungen und albtraumhaften Ausdünstungen des Necronomicons immun geblieben war. Aber ob er auch Fiorella helfen konnte? Sie musste es versuchen – es war ihre einzige Hoffnung!
Mit einem beherzten Schritt trat sie so nah wie möglich an ihre Großmutter heran und presste die Traumgondel an Fiorellas Schläfe. Die prompte Reaktion überraschte Francesca. Die fratzenhaften Schatten wichen kreischend von Fiorella zurück und sofort lockerte sich der Griff um Francescas Arm.
»Was …?« Der Ausdruck in Fiorellas Gesicht war der eines Menschen, der nicht begreift, was um ihn herum geschieht.
»Leonardo und Cecilia sind tot«, wiederholte Francesca eindringlich. »Du darfst sie nicht zurückholen. Lass ihre Seelen in Frieden ruhen!«
»Tot … ja, tot«, stammelte Fiorella benommen. »In Frieden ruhen …«
Der schwarze Nebel in Fiorellas Augen begann sich zu lichten und auch die Finsternis im Flur zog sich zurück. Mit jeder Sekunde wurde es um sie herum heller.
Fiorella stand benommen auf dem obersten Treppenabsatz.
»Was ist passiert?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Warum stehen wir denn mitten in der Nacht im Flur herum?« Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Werde ich so langsam altersdement?«
»Nein, Nonna.« Francesca lachte vor Erleichterung auf. Es war wieder die gewohnte Stimme ihrer Großmutter – ohne jeglichen bösartigen Unterton. »Du bist völlig klar und gesund, glaub mir!«
Nach einem letzten Zögern strafften sich Fiorellas Schultern wieder und ein schelmisches Lächeln überzog ihr Gesicht.
»Nun gut, wenn wir schon mal hier sind, können wir auch gleich zu einem Mitternachtsimbiss in die Küche gehen und du erzählst mir, was passiert ist. Meine Güte, habe ich einen Hunger, ich könnte einen ganzen Kuchen verdrücken.«
»Okay, da bin ich dabei!«
Francesca ließ sich glücklich auf eine der Stufen sinken. Sie konnte es kaum glauben – sie hatte es geschafft! Ihre Großmutter war wieder zu sich gekommen.
Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Ein einzelner Schatten war anscheinend nicht bereit, von Fiorella abzulassen. Im Schutze des letzten Zwielichts stürmte eine schwarze Fratze mit aufgerissenem Maul auf Fiorella zu. Der Schatten umschwirrte sie wie eine wütende Wespe und begann, sie von allen Seiten zu attackieren. Obwohl Fiorella ihn nicht sehen konnte, schien sie ihn zu spüren. Den Bewegungen des Schattens folgend drehte sie sich ruckartig nach links und rechts, schlug wie wild mit ihren Armen um sich, begann zu taumeln und – verlor das Gleichgewicht!
Sofort sprang Francesca auf und versuchte, nach Fiorellas Hand zu greifen.
Einen winzigen Moment lang spürte sie Fiorellas pergamentdünne Haut und die Wärme ihrer Finger … dann entglitt sie ihr.
»Nonna!«
Francescas panischer Schrei hallte durch den Palazzo.
Wie in Zeitlupe sah sie ihre Großmutter die Treppe hinunterstürzen. Bei jeder Stufe, auf die Fiorella aufschlug, presste Francesca die Augen zusammen, doch sie konnte das Brechen der Knochen hören.
Dann war es plötzlich still.
Entsetzt sah Francesca nach unten.
Umrahmt von einem Schleier weißer Haare lag Fiorella am Fuß der Treppe, neben sich ihre geliebte schwarze Stola.
»Nonna?«, wisperte Francesca.
Ihre Großmutter regte sich nicht. Hinter sich hörte Francesca die Stimmen der heraneilenden Familienmitglieder, doch sie bedachte sie nicht mit einem einzigen Blick.
Francesca stolperte die Stufen hinab und fiel neben Fiorella auf die Knie. Ihre Augen waren geschlossen.
Vorsichtig bettete Francesca den Kopf ihrer Großmutter auf ihren Schoß.
»Nonna, bitte wach wieder auf!«
Heiße Tränen liefen über ihre Wangen. Ihr Herz wurde von einem solch tiefen Schmerz zusammengezogen, wie sie ihn noch nie zuvor verspürt hatte.
Sie strich ihr liebevoll über die langen weißen Haare und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Bitte nicht …«, schluchzte sie auf. »Nicht … sterben …«
D ie Morgendämmerung erhob sich über Venedigs Dächer und gab dem Himmel eine graublaue Farbe. Gianna saß Francesca gegenüber auf ihrem Bett und starrte mit rot geränderten Augen ins Leere.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Francesca.
Gianna sah auf und schüttelte langsam den Kopf. »Du kannst doch nichts dafür«, sagte sie mit matter Stimme. »Du hast sogar noch versucht, sie aufzufangen. Dich trifft keine Schuld. Wenn überhaupt, dann …«
Sie verstummte und
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