Die Schattenträumerin
etwa, dass noch mehr Menschen Schaden nehmen?«
Sie hob ihre Hand und holte aus.
In einer überraschend schnellen Bewegung packte Gianna ihr Handgelenk und hielt es fest. Mit entschlossener Miene stellte sie sich zwischen Francesca und das Fenster.
»Natürlich will ich nicht, dass noch mehr Menschen verletzt werden«, widersprach Gianna ihr heftig. »Aber du musst auch an dich und den Fluch denken. Großvater wird nicht umsonst davon ausgegangen sein, dass dieses Buch so wichtig für unsere Familie ist. Wenn du das Necronomicon jetzt aus dem Fenster wirfst, wirst du wahrscheinlich für den Rest deines Lebens diese schrecklichen Albträume haben. Du hast vorhin selbst gesagt, dass sie bei den anderen Fluchträgern mit jedem Jahr schlimmer geworden sind und dir die Traumgondel irgendwann nicht mehr helfen wird. Willst du das wirklich riskieren?«
Francesca schluckte schwer. Gianna hatte recht. Auch wenn sie den Inhalt des Necronomicons als nutzlos erachtete, so war das Buch trotzdem ihre letzte und einzige Hoffnung, den Fluch aufheben zu können. Plötzlich tauchten Bilder vor ihrem inneren Auge auf – von ihren nächtlichen Albträumen, ihrer Flucht durch die Dunkelheit, wie ihr Jäger sie schließlich erwischte. Sie erinnerte sich an Nonnas Erzählung, dass Francescas Großvater sogar in der Realität von den Wunden gezeichnet war, die ihm im Traum zugefügt wurden. Für einen schrecklichen Moment hatte sie dasBild im Kopf, wie Cecilia in einem flatternden weißen Nachthemd vom Dach des Palazzos stürzte. Zweifel überkamen Francesca. War sie wirklich bereit, das alles zu ertragen? War sie dafür stark genug? Oder würde sie genauso enden wie Cecilia? Ihr Blick fiel auf das Buch in ihrer Hand. Wegen dieses Buches hatte sie letzte Nacht geglaubt, dass ihre Großmutter gestorben sei, seinetwegen lag Fiorella jetzt im Krankenhaus. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Nein, sie hatte sich richtig entschieden! Ihre Hand presste sich fester um das Necronomicon. »Dann muss ich eben mit diesem Fluch leben!«, sagte sie mit trauriger Entschlossenheit.
Sie versuchte, sich von Gianna freizumachen, doch ihre Cousine klammerte sich mit verzweifelter Entschlossenheit an ihren Arm.
»Aber du hast gesagt, dass es noch eine letzte Spur gibt«, erinnerte Gianna sie. »Lass uns nachher in die Bibliothek gehen und nach dieser ›Chronik des Unglücks‹ suchen. Wenn wir nichts herausfinden, kannst du das Buch vor Einbruch der Dunkelheit immer noch im Kanal versenken.«
Francesca zögerte. Sie musste zugeben, dass Giannas Vorschlag vernünftig klang.
»Außerdem muss es eine Möglichkeit geben, etwas gegen die Macht des Necronomicons auszurichten«, setzte Gianna hinzu. »In Baldinis Antiquariat sind schließlich auch keine dieser Schattengespenster herumgegeistert.«
Francesca erstarrte wie vom Donner gerührt. Langsam ließ sie ihre Hand nach unten sinken. Warum war sie nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen?
Sie stöhnte auf und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Wie kann man nur so dämlich sein?«
»Meinst du etwa mich?«, fragte Gianna gereizt.
»Quatsch! Ich rede von mir.« Sie drückte ihrer Cousine einen Kuss auf die Wange. »Gianna, du bist ein Genie!«
»Man tut, was man kann.« Sie grinste breit. »Und warum bin ich ein Genie, wenn man fragen darf? Nicht, dass ich es nicht selbst wüsste. Ich möchte es nur noch einmal aus deinem Mund hören.«
Francesca lachte. »Du bist deswegen ein so großartiges Genie, weil mir erst durch dich die Zusammenhänge klar geworden sind«, erklärte sie. »Baldini hat mich kurz vor seinem Tod gewarnt, dass ich an die Sicherheitsvorkehrungen denken muss, da die Macht des Necronomicons sonst zu stark wird. Aber ich hatte natürlich keine Ahnung, was er damit meinte. Selbst als ich in Großvaters Büchern davon gelesen habe, ist mir der Zusammenhang nicht bewusst geworden. Aber das Salz, das Baldini in seinem Separee auf dem Boden verstreut hatte, war nicht zufällig dort.«
Gianna blinzelte sie verständnislos an. »Hä?«
Francesca eilte zur Vitrine, die glücklicherweise offen stand, und zog ein Buch daraus hervor.
»Hier steht es: Der Glaube an die magische Kraft des Salzes ist so alt wie die Menschheit selbst. Wir wissen von vielen Kulturen, die Salz bei Opferungen für ihre Götter und zur Bestätigung wichtiger Vereinbarungen verwendet haben. Dem Salz wird eine große Schutzfunktion zugeschrieben. Wirft man zum Beispiel eine Prise davon über die
Weitere Kostenlose Bücher