Die Schattenträumerin
tatsächlich nicht so genau, was für ein Wesen sie gleich heraufbeschwören würde.
Francesca ließ den Blick prüfend durch den Raum gleiten. Sie konnte nur hoffen, dass eine mystische Stimmung für die Beschwörung nicht zwingend notwendig war. Anstatt zahlreicher Kerzen beleuchtete ein Baustellenscheinwerfer die Szenerie und die vielen Werkzeuge und aufgestapelten Bodenplatten erstickten jede geheimnisvolle Atmosphäre im Keim. Allerdings war sie ganz froh darüber. Der Anblick dieser Alltagsgegenstände beruhigte sie irgendwie. Wenn sie allein im flackernden Kerzenschein hätte stehen müssen, wäre ihre Angst sicherlich ins Unermessliche gestiegen.
Francesca atmete tief durch und ging langsam auf das Necronomicon zu. Sie spürte, wie sich Schweiß in ihren Achseln sammelte. Vorsichtig, um den Salzkreis nicht zu beschädigen, kniete sie sich auf den Boden. Ihre Hand, die zögernd über dem Buch schwebte, begann zu zittern. Plötzlich packten sie Zweifel. Tat sie wirklich das Richtige? Hätte sie diese Sache nicht erst mit Fiorella durchsprechen sollen?
Nein, sie durfte sich jetzt nicht von ihrer Angst übermannen lassen! Genau wie sie Gianna gesagt hatte, war sie sich absolut sicher, dass dies der richtige Weg war. Abgesehen davon durfte sie die Beschwörung nicht länger aufschieben. Denn wenn Alessandro ihr verraten würde, wie der Fluch gelöst werden konnte, konnte es unter Umständen einige Zeit in Anspruch nehmen, seine Anweisungen in die Tat umzusetzen.
Ohne weiter zu zögern, schlug sie das Necronomicon auf. Sofort erhob sich eine schwarze Nebelsäule von seinen Seiten, die tastend hin- und herzuckte. Francescas Herz hämmerte wild an ihre Brust, als ob es ihr damit das Signal geben wollte, mit dem, was sie vorhatte, aufzuhören.
Vorsichtig blätterte sie um. Die alten Buchseiten raschelten und die geschwungenen Buchstaben waren schwer zu entziffern. Wie Francesca befürchtet hatte, kam sie wegen des Fingerhuts nur langsam voran. Auch musste sie jedes Mal, wenn ihr die Nebelsäule gefährlich nahe kam, zurückweichen. Zwar war ihre Hand durch den Silberschmuck ein wenig geschützt, aber sie durfte kein unnötiges Risiko eingehen. Wenigstens, so bemerkte Francesca erleichtert, funktionierte ihr Plan und es gelang der Nebelsäule nicht, das Innere des Salzkreises zu verlassen.
Mit Bedauern stellte sie fest, dass das Necronomicon kein Inhaltsverzeichnis besaß, und so durchsuchte sie wahllos das Buch. Dabei fiel ihr auf, dass die Beschwörungen nach ihrem Schwierigkeitsgrad und ihrer Mächtigkeit geordnet waren. Einer Eingebung folgend schlug sie die letzten Seiten auf. Es war, wie sie vermutet hatte: Dort prangte der Name des mächtigsten Fluchdämons, den man beschwören konnte. Nyarlath. Beseelt von seiner Rache hatte Alessandro den stärksten Fluch des Necronomicons über Venedig verhängt.
Endlich stieß sie auf die Seite mit der Totenbeschwörung. Sie befand sich im ersten Drittel des Buches, was Francesca hoffen ließ, dass auch sie – obwohl sie keine Ahnung von diesen Dingen hatte – die Beschwörung bewerkstelligenkonnte. Konzentriert überflog sie die Seite. Dort war das gleiche Pentagramm abgebildet, das sie schon aus der Abhandlung abgezeichnet hatte. Natürlich fehlte jedoch das von Knüttelsiel entwickelte Schutzpentagramm, auf das Francesca all ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Sie hatte wirklich Glück gehabt, dass der Professor ausgerechnet die fünf Seiten hatte studieren können, unter denen sich auch die Totenbeschwörung befand. Um einen Missbrauch der magischen Kräfte zu verhindern, hatte er in seiner Abhandlung jedoch den genauen Wortlaut der Beschwörung weggelassen.
Francesca zog überrascht eine Augenbraue hoch. Die Formel war kürzer, als sie erwartet hatte. Es handelte sich dabei um eine fremdartig klingende Silbenfolge, die für sie keinerlei Sinn ergab. Still formten ihre Lippen die Laute, bis sie glaubte, sie sich genügend eingeprägt zu haben.
Unvermittelt schoss eine eisige Kälte ihren Arm hinauf. Erschrocken sah Francesca auf.
Sie war so auf die Formel konzentriert gewesen, dass sie die Nebelsäule vollkommen vergessen hatte. Nun hatte sich ihre dünne Spitze wie eine Schlange mehrfach um Francescas kleinen Finger gewickelt. Nur mit Mühe konnte sie einen panischen Aufschrei unterdrücken.
Was sollte sie jetzt tun? Sofort versuchte sie, mit schnellen, ruckartigen Bewegungen ihren Finger zu befreien, doch die Nebelschlange ließ sich nicht abschütteln.
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