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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Wilk
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unter ihren Armen. Putz löste sich von der Decke und rieselte als feiner Staub auf sie herab. Gegen ihren Willen hatte Francesca plötzlich die Baumstämme vor Augen, auf denen Venedig ruhte – wie das versteinerte Holz unter Wasser Tonnen von Gewicht zu tragen hatte und nun durch den bebenden Untergrund erschüttert wurde. Wenn die Baumstämme nachgaben, würden die Häuser in sich zusammenfallen und alles in die Tiefe reißen, was sich in ihnen befand …
    Zu Francescas Erleichterung ebbten die Erdstöße ab. Das war zum Glück nicht das große Beben gewesen, das die Seismologen befürchtet hatten. Doch Nyarlath würde Venedig nicht in dieser Nacht zerstören, Francescas Frist war noch nicht abgelaufen. Aber auch wenn es nur ein kleines Beben gewesen war, hatte es Francesca daran erinnert, was sie zu tun hatte. So einfach würde sie Nyarlath nicht gewinnen lassen! Entschlossen stand sie auf und stellte sich in das Schutzpentagramm. So ein leichtsinniger Fehler wie gerade eben würde ihr nicht mehr unterlaufen. Ab sofort würde sie besser aufpassen!
    Sie schloss die Augen und rief sich die Beschwörungsformel ins Gedächtnis. Adrenalin schoss durch ihren Körper und ihr Mund war plötzlich so trocken, dass es ihr schwerfiel, die ersten Worte auszusprechen. Sie hörte, wie ihre heisere Stimme von den Wänden des Ballsaals zurückgeworfen wurde und die fremdartigen Laute den Raum erfüllten. Wie im Necronomicon beschrieben, wiederholte sie die Formel dreimal hintereinander und fügte am Ende Alessandros Namen hinzu, dann öffnete sie blinzelnd die Augen.
    Nichts war geschehen.
    Das ihr gegenüberliegende Pentagramm war leer. Unruhig trat Francesca von einem Bein auf das andere. Hatte sie die Formel falsch ausgesprochen? Ob sie das Schutzpentagramm verlassen und im Buch noch einmal nachsehen sollte? Gerade als sie zögernd einen Schritt vortreten wollte, geschah es.
    Die Nebelsäule über dem Necronomicon verdichtete sich und wuchs immer weiter in die Höhe, bis sie fast dieDecke erreicht hatte. Erst dann wandte sie sich zur Seite in Richtung des gegenüberliegenden Pentagramms. Hier waren die Zeichen angebracht, die die Macht des Necronomicons anzogen und verstärkten. Trotzdem bewegte sich die Nebelsäule nur quälend langsam auf das Pentagramm zu. Francesca vermutete, dass dies an dem Salzkreis lag, der das Necronomicon schwächte. Sie musste damit rechnen, dass die Beschwörung – wenn sie überhaupt gelingen sollte – noch kürzer werden würde, als Knüttelsiel prophezeit hatte. Denn der Salzkreis war keine von Knüttelsiels Sicherheitsvorkehrungen, das war allein ihre Idee gewesen. Hätte der magische Salzkreis nicht gerade ihre Rettung bedeutet, hätte sie es in diesem Moment wohl bereut, den Kreis angebracht zu haben. Ob die Zeit ausreichen würde, um Alessandro die Wahrheit zu entlocken?
    Endlich hatte die Nebelsäule die Mitte des Pentagramms erreicht. Sie war mittlerweile so dünn und schwach, dass sie kaum noch zu erkennen war. Als sie jedoch das magische Zeichen der Totenbeschwörung berührte, schoss etwas mit einem gellenden Schrei aus dem Necronomicon hervor. Francesca konnte nicht erkennen, was es war, denn im selben Moment explodierte die Nebelsäule förmlich. In Windeseile breitete sich der schwarze Nebel im ganzen Ballsaal aus, der Baustellenscheinwerfer begann zu flackern und ein vielstimmiges Kreischen erfüllte den Raum.
    Die plötzliche Stille, die danach folgte, war jedoch fast genauso unheimlich.
    Eine Gänsehaut kroch Francesca den Rücken hinauf. Im flackernden Licht des Scheinwerfers erkannte sie, dass imPentagramm nun eine Gestalt stand. Es war ohne Frage ein Mensch, wenn er auch sehr mitgenommen aussah. Seine edle Kleidung war voller Blutflecken, das Hemd zerrissen und seine Haare hingen ihm in langen Strähnen ins Gesicht. Am beunruhigendsten war jedoch das irre Funkeln in seinen Augen. Durch seine eingefallenen Wangen und die tief liegenden Augenhöhlen wirkte er völlig ausgezehrt.
    Der Hass hat ihn von innen aufgefressen, schoss es Francesca durch den Kopf. Und mit diesem Mann sollte sie verwandt sein? Automatisch suchte sie in seinen Gesichtszügen nach Ähnlichkeiten und war fast schon erleichtert, als sie keine finden konnte.
    Nachdem er einige erfolglose Versuche unternommen hatte, das Pentagramm zu verlassen, fixierte er Francesca mit lauerndem Blick. Sie musste sich selbst daran erinnern, dass sie keine Zeit dafür hatte, einfach nur herumzustehen und mit geöffnetem

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